Die Bruderschaft vom Heiligen Gral 01 - Der Fall von Akkon
gerettet, wie es seine vornehmste Aufgabe gewesen war. Und nun verlangten sein Verstand und sein heiliges Amt mit unerbittlicher Strenge von ihm, dass er sich einzig darauf konzentrierte, den Kelch auf dem schnellsten Weg nach Paris zu bringen. Nichts anderes hatte Vorrang. Aber das bedeutete, dass er Gerolt, Maurice und McIvor im Land der Mamelucken ihrem Schicksal überlassen musste! Sicher musste ein jeder, der den Schwur als Gralsritter geleistet hatte, bereit sein, jederzeit sein Leben zu opfern, wenn dadurch der Heilige Gral gerettet werden konnte. Und er hegte nicht den geringsten Zweifel, dass seine Freunde genau dazu bereit waren und ihm auch nicht den geringsten Vorwurf machen würden, wenn sie wüssten, dass er das heiligste aller christlichen Heiligtümer in Sicherheit gebracht hatte. Aber hatte er nicht auch den heiligen Schwur geleistet, in unverbrüchlicher Freundschaft und Treue zu ihnen zu stehen? Durfte dieses Wort denn nichts mehr gelten? Musste man als Gralsritter wirklich so unerbittlich hart gegen sich selbst und seine treusten Freunde sein? Konnte der Abbé, ja konnte Gott dieses bittere Opfer wirklich von ihnen wollen? Aber selbst wenn er der eisigen Forderung des Verstandes zu folgen bereit wäre, wie sollte er denn die vor ihm liegende Aufgabe allein bewältigen? Konnte er das überhaupt wagen, völlig auf sich allein gestellt? Er steckte mitten in Feindesland und er würde weder in Cairo noch in einer anderen ägyptischen Hafenstadt einfach so auf ein ausländisches Handelsschiff spazieren können. Nach dieser Nacht würde es für ihn noch schwerer werden, aus Ägypten zu entkommen, zumindest per Schiff. Und die vielfältigen Gefahren, mit denen er rechnen musste, würde er allein niemals bestehen können. Er brauchte Beistand, Männer, denen er in jeder Situation blind vertrauen konnte! Er brauchte seine Freunde! Oder redete er sich das nur ein, weil er Gerolt, Maurice und McIvor nicht im Stich lassen wollte? Fragen über Fragen stürzten auf ihn ein, auf die er keine Antwort wusste, und jede Frage quälte ihn mehr als die andere. Er hatte plötzlich das niederschmetternde Gefühl, als Gralshüter seinem schweren Amt doch nicht so gewachsen zu sein, wie er vor Kurzem noch geglaubt hatte. Die Furcht, die falsche Entscheidung zu treffen, drückte wie ein schwerer Bleiklumpen auf seine Brust. In seiner Ratlosigkeit, ja Verzweiflung, suchte er Trost im Gebet. Es war der 31. Psalm, der ihm als Erstes in den Sinn kam. Und den betete er mit ganzer Inbrunst. »Herr, ich suche Zuflucht bei dir. Lass mich doch niemals scheitern; rette mich in deiner Gerechtigkeit. Wende dein Ohr mir zu, erlöse mich bald. Sei mir ein schützender Fels, eine feste Burg, die mich rettet! Denn du bist mein Fels und meine Burg; um deines Namens willen wirst du mich führen und leiten. Denn du wirst mich be freien aus dem Netz, das sie heimlich um mich legten; denn du bist meine Zuflucht. In deine Hände lege ich voll Vertrauen meinen Geist; du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott . . .«
Plötzlich machte er am Nachthimmel eine Bewegung aus. Das in nige Gebet erstarb auf seinen Lippen, als er im nächsten Moment sah, dass es sich um einen Vogel handelte, der aus der samtenen Schwärze der Nacht herabstieg. Lautlos verlor er an Höhe und glitt über den Fluss zu ihm heran. Und dann fiel das Mondlicht auf den Vogel, der seine mächtigen Schwingen weit ausgebreitet hatte. Das Gefieder leuchtete so weiß wie frisch gefallener Schnee. Auf einmal verharrte der majestätische Vogel nur wenige Hundert Ellen von ihm entfernt in der Luft. Ein Schauer überlief ihn, als er begriff, was er da sah. Es war der geheimnisvolle weiße Greif, den Abbé Villard Das Auge Gottes genannt hatte! Im selben Augenblick geschah etwas Unglaubliches mit ihm. Der Nil, das Ufer, die ganze Landschaft vor seinen Augen verschwanden plötzlich, als wäre das alles nur ein riesiges Gemälde gewesen, das man nun vor seinem Gesicht weggezogen hatte. Und er selber schien hoch oben in der Luft zu schweben, als wäre nun er der Greif! Fremde, völlig verschwommene Bilder rasten im nächsten Mo ment aus einer Art schwarzem Schlund mit einer Geschwindigkeit auf ihn zu, die ihn schwindeln ließ. Wie ein Kaleidoskop dünner farbiger Streifen, die sich vor seinem Auge auffächerten, flogen sie ihm aus der schwarzen Mitte entgegen. Auf einmal gewannen jene Bilder an Schärfe und er sah unter sich ein Haus mit einem goldschimmernden Dach. Und wie ein Vogel
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