Die Eisprinzessin schläft
gebrochen. Jan redete in einem wahnsinnigen Tempo, und Patrik hielt sich zurück, um nicht zu riskieren, daß die Wortflut gestoppt wurde. Jan zündete sich eine Zigarette an, drehte die Scheibe eine Spur herunter, damit der Rauch abzog, und fuhr fort: »Wir lebten in einer eigenen Welt. Wir trafen uns, wo uns niemand sah, und suchten Trost und Geborgenheit beieinander. Es war merkwürdig, obwohl uns der Anblick der anderen eigentlich an das Schreckliche hätte erinnern müssen, konnten wir doch nur zusammen ein Weilchen der Wirklichkeit entfliehen. Ich weiß nicht mal, wieso wir Bescheid wußten. Wie es kam, daß wir uns zusammenschlossen. Aber irgendwie haben wir es gewußt. Es war unausweichlich, daß wir zueinanderfanden. Ich war dann derjenige, der auf die Idee kam, die Sache auf unsere eigene Weise zu lösen. Alex und Anders hielten es erst für ein Spiel, aber ich wußte, daß daraus Ernst werden mußte. Es gab keinen anderen Ausweg. An einem kalten, klaren Wintertag gingen wir aufs Eis, mein Bruder und ich. Es war nicht schwierig, ihn mitzulocken. Er war total begeistert, daß ich die Initiative ergriff, und freute sich auf unseren kleinen Ausflug. Ich hatte in jenem Winter viele Stunden auf dem Eis verbracht und wußte genau, wohin ich ihn führen mußte. Anders und Alex warteten dort. Nils war verwundert, als er sie erblickte, aber er war so arrogant, daß er keinen Moment eine Bedrohung darin sah. Wir waren ja trotz allem nur Kinder. Der Rest war leicht. Ein Eisloch, ein Stoß, und er war weg. Anfangs waren wir total erleichtert. Die ersten Tage waren wunderbar. Nelly war außer sich vor Unruhe, fragte sich, wohin Nils verschwunden war, aber ich lag abends in meinem Bett und lächelte. Ich genoß das Ausbleiben der Schritte. Dann ging die Hölle los. Die Eltern von Alex hatten irgend etwas bemerkt, wie, weiß ich nicht, und sie gingen zu Nelly. Alex schaffte es wohl nicht, all dem Druck und den Fragen zu widerstehen, sondern erzählte alles, auch von mir und Anders. Nicht von dem, was wir mit Nils gemacht hatten, sondern von dem, was davor passiert war. Wenn ich geglaubt hatte, von meiner Pflegemutter irgendwelche Sympathien erwarten zu können, dann habe ich damals meine Lektion gelernt. Nelly hat mir nie mehr in die Augen gesehen. Sie hat auch nie mehr wissen wollen, wo Nils ist. Manchmal frage ich mich, ob sie etwas geahnt hat.«
»Vera hat ebenfalls von dem Mißbrauch erfahren.«
»Ja, aber Mutter war geschickt. Sie setzte auf Veras Wunsch, Anders zu schützen und in bezug auf die eigene Person den Schein zu wahren, und so brauchte sie Vera nicht einmal zu bezahlen oder mit einem guten Job zu bestechen, damit sie schwieg.«
»Glaubst du, daß Vera früher oder später auch erfahren hat, was mit Nils passiert ist?«
»Da bin ich mir ganz sicher. Ich glaube nicht, daß Anders das jahrelang vor ihr verschweigen konnte.«
Patrik überlegte laut. »Also hat Vera Alex vermutlich nicht nur deshalb getötet, damit der Mißbrauch nicht bekannt wird, sondern weil sie Angst hatte, daß Anders des Mordes angeklagt wird.«
Jans Lächeln war beinahe schadenfroh. »Was fast komisch ist, wenn man bedenkt, daß der Mord einerseits verjährt ist und sich andererseits wohl niemand darum scheren würde, nach so langer Zeit Anklage gegen uns zu erheben, auch weil wir damals noch Kinder waren.«
Gegen seinen Willen mußte Patrik ihm recht geben. Es hätte keine Folgen gehabt, wenn Alex zur Polizei gegangen wäre und alles erzählt hätte, aber vermutlich hat Vera das nicht begriffen, sondern geglaubt, es bestehe tatsächlich die Gefahr, daß Anders wegen Mordes ins Gefängnis kommt.
»Habt ihr hinterher weiter Kontakt gehalten? Alex, Anders und du?«
»Nein. Alex ist umgehend weggezogen, und Anders verkroch sich in seiner eigenen kleinen Welt. Wir haben uns zwar manchmal gesehen, aber erst als Anders mich nach dem Tod von Alex anrief und herumbrüllte, ich hätte sie ermordet, haben wir nach fünfundzwanzig Jahren das erste Mal wieder miteinander geredet. Ich habe es natürlich bestritten, ich hatte ja nichts mit ihrem Tod zu tun, aber er ließ nicht locker.«
»Hast du nicht gewußt, daß sie zur Polizei gehen und von Nils’ Tod erzählen wollte?«
»Nicht, bevor sie starb. Anders hat es erzählt, nachdem sie tot war.« Jan blies lässig ein paar Rauchringe vor sich hin.
»Was wäre passiert, wenn du es gewußt hättest?«
»Das werden wir nie erfahren, oder?«
Er drehte sich zu Patrik um und betrachtete ihn
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