Die Erzaehlungen
man seine Rechte durch große nationale Betätigungen im Leben und auf dem politischen Theater (ein Wort, welches Karás auch in seinen Feuilletons beständig gebrauchte) eher bewahren könne, als durch solche Ungehörigkeiten. Er hatte wohl noch ein paar geläufige Phrasen im Vorrat, aber er hörte plötzlich auf. Er wußte selbst nicht, warum. Die anderen schauten auf, und da stand Rezek vor ihnen. Der Student, in dessen blassem Gesicht die dunklen Augen brannten, übersah die Hände, die man ihm entgegenstreckte. Er hatte vielleicht die letzten Worte des Kritikers vernommen, aber er erwiderte nichts, setzte sich ruhig an seinen gewöhnlichen Platz und trank seinen Tschaj. Seine harten Hände zitterten leise. Man wagte nicht zu sprechen. Endlich hub Pátek an, von einem neuen Buch zu reden, und die Künstler verloren sich ganz in diesen Erörterungen. Es handelte sich um Novellen im Stile Maupassant, welche ein junger Kollege erscheinen lassen wollte. Da waren noch einige Schwierigkeiten in der Geldfrage und in anderen Verlagssachen, und man beriet, ob man dem Autor zu Hilfe kommen sollte. Der mächtige Karás war nicht sehr geneigt dazu. Da rief Pátek entrüstet: »Aber ich bitte Sie, das ist eine nationale Sache!«
Rezek erhob sich mit einem eisigen Lächeln: »Seid ihr Tschechen?« fragte er.
Alle schwiegen und sahen sich verlegen an. Schileder war aufgestanden.
»Seid ihr Tschechen?« wiederholte der Student.
Karás beschwichtigte: »Was fällt Ihnen ein, Rezek? Provozieren Sie nicht.«
»Aber reif seid ihr? Was?« fuhr der fort. »Reif und fertig.«
»Er ist betrunken«, flüsterte Machal verächtlich.
Rezek ballte die Fäuste. Aber er hielt sich zurück: »Ich weiß ja, daß ihr gewohnt seid, gerechten Zorn für gemeine Trunkenheit zu halten. Ich weiß. Aber sagen will ich euch nur, das Volk ist nicht reif, und wenn ihr euch so fertig fühlt, so seid ihr seine Feinde, seid Verräter.«
»Ich bin Offizier«, sagte Pátek mit banger Stimme und trat vor.
Rezek hielt ihm die Faust vors Gesicht und ging, ohne ein Wort, an ihm vorüber aus dem Saal.
Bohusch konnte die Frantischka nicht vor sechs oder sieben Uhr, wie er es in seinem Briefe bestimmt hatte, erwarten; gleichwohl fragte er seit drei Uhr, warum die Geliebte immer noch nicht käme, war gegen vier im Begriffe, sie abzuholen, und unterließ es ungern und zögernd aus Stolz oder sonst aus einem Grunde. Unruhig lief er, die Hände auf dem Rücken, in den kleinen Stuben umher, in welchen dichtgedrängter Urväterhausrat, wie man ihn allzu reichlich aus der Portierswohnung mitgenommen hatte, dieses Her und Hin ziemlich erschwerte, und blieb nur dann und wann bei dem Fenster stehen, an welchem eine kleine alte Frau saß und nähte.
»Mutter«, stieß er endlich gequält heraus, »du mußt sie holen gehen!«
Die Alte nickte, hob die große runde Brille von den Augen und nickte. Sie dachte keinen Augenblick nach: natürlich, sie mußte die Frantischka holen gehen. Und sie vertauschte die Haube mit dem Hut und zog ein gelbes, gutes Shawl um die schiefen Schultern. »Du kannst ja sagen, du gingst gerade vorüber, du … ach Gott na, du gingst eben gerade vorüber. Nicht? Warum könntest du nicht zufällig dort vorübergehen? Es gehen sicher viele Menschen dort vorüber.« Bohusch lachte abgebrochen. »Na, so sag doch«, fuhr er in ungeduldigem Zorne auf, »ist das möglich?« Frau Bohusch nickte ganz verschüchtert: »Weißt du, ich will erst in die Kirche gehen, nebenan. Ich kann dann sagen, ich war in der Kirche…« Sie zögerte noch. Der Bohusch dachte längst an andere Dinge. Er sah die alte Frau kaum mehr und erstaunte fast, als er bei seinem Auf-und Niederwandern vor ihr stand. Das gelbe Tuch war unerträglich grell in der Nachmittagssonne. Sie schauten sich eine Weile schweigend an, diese beiden kleinen, verkümmerten Menschen. Dann trippelte die Alte zur Tür und nickte und nickte. Plötzlich war der Bohusch bei ihr. »Maminko«, sagte er, und seine Stimme war wie die eines kranken Kindes. Und die alte, verängstigte Frau verstand. Sie wuchs, sie wurde reich, sie wurde Mutter. Durch dieses eine leise Wort wurde sie so. Alle Bangigkeit in ihr war Güte mit einemmal, und, die noch eben so unbeschützt und hilflos aussah, war mächtig, wie sie nun sachte die Arme ausbreitete, und dem Bohusch war es wie eine Heimkehr. Er schmiegte den großen schweren, wirren Kopf an ihre Brust, er schloß die heißen Augen, er ging unter in dieser unendlichen,
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