Die Festung
es
war von betrübten Mädchen die Rede, deren Burschen in den Krieg zogen, und das
sang er unaufhörlich, immer wieder von vorn, sobald er am Rand seines kurzen
Gedächtnisses angelangt war. Bleich, mager, mit gelben Augenlidern, glich er
einem Sterbenden. Seit dreißig Jahren sorgte er für seine blinde Mutter,
ihretwegen hatte er auch nicht geheiratet, ihretwegen schleppte er von früh bis
spät das schwere Zinngefäß voller Zuckerwasser. Wenn er einschlief, kamen die
Kinder, schenkten sich Scherbett ein und tranken. Ich lächelte ihnen zu.
Salih Golub hatte einen Bruder in
Goražde, aber sie mochten einander nicht sehr. Dieser Bruder besaß Wälder und
Güter, pachtete Grundbesitz der Kirche, verlieh Geld zu Wucherzinsen und erwarb
ein großes Vermögen, was erst nach seinem Tod offenbar wurde. Er wurde am
Glasinac, wo er ein Pferdegestüt unterhielt, von Bećir Toskas Heiducken
ermordet, und da seine Frau schon früher gestorben war, fiel das Erbe an den
Bruder Salih und die Mutter. So wurde Salih Golub über Nacht von einem Glück
heimgesucht, wie man es nicht einmal erträumt.
Am nächsten Tag kam er zur Moschee,
keineswegs glücklich, erzählte ruhig, was ihm geschehen war, und bot mir Geld
an, damit ich eine Arbeit aufnehmen konnte, anderenfalls sollte ich mit ihm
nach Goražde gehen und ihm bei der Verwaltung des riesigen Besitzes helfen. Es
klang, als wollte er, daß jemand sein Leid teilte. Als ich ablehnte, wunderte
er sich nicht. Er betrachtete seinen Platz auf den Stufen, wo er so viele Jahre
ausgeruht und gesungen hatte, und ging gesenkten Kopfes weg. Er starb in derselben
Nacht, vor Freude oder vor Trauer. Seine Mutter heiratete bald darauf den
Hodscha Šahinbaša, der einer Frau ähnlicher war als sie. Beide waren siebzig
Jahre alt. Keiner betrog den anderen: Sie war ohne Augenlicht, er ohne Besitz.
Das Leben hatte nur Salih Golub betrogen.
Ich ging nicht mehr zur Moschee.
Ich bekam Sehnsucht nach Wasser,
fließendem, klarem, flachem. Vielleicht wegen der Sümpfe bei Chotin oder wegen des
trüben Dnjestr, der weit war wie das Meer. Vielleicht auch weil ich ruhig und ohne
nachzudenken ins Wasser schauen konnte. Alles floß, leise, murmelnd, ruhig,
alles, Gedanken, Gefühle, Leben.
Ich fühlte
mich wohl, fast war ich glücklich. Stundenlang starrte ich ins Wasser und ließ
die runden kleinen Wellen über meine Hand streichen, als wären sie lebende
Wesen. Das war alles, was ich wollte, was ich mir wünschte.
Aus diesem
Traum weckte mich Mula Ibrahim. Sein Schatten fiel auf mich, als ich am Ufer
des Baches saß.
»Du schaust
ins Wasser?« fragte er.
Es klang
mitleidig, es klang besorgt.
Ich
lächelte, doch ich antwortete nicht.
»Bist du
jeden Tag hier?«
»Ja.«
»Und was
tust du?«
Ich hob die
Schultern.
»Ist es
nicht langweilig, ins Wasser zu starren?«
Ich sah ihn
erstaunt an: Wieso sollte mir das langweilig sein?
»Wie lange
willst du so weitermachen?«
»Was meinst
du?«
»Wovon
lebst du?«
Wieder hob
ich die Schultern. Ich wußte nicht, wovon ich lebte, es war auch unwichtig.
»So allein
wirst du noch verrückt.«
»Nein.«
»Der Winter
kommt, die Krankheiten kommen, die Jahre kommen. Und was dann?«
»Ich weiß
es nicht.«
»Zürnst du
jemandem? Bist du traurig? Hast du Alpträume?«
»Nichts von
alledem.«
»Du hast
mir geholfen, als es mir am schlimmsten erging.
Jetzt will
ich dir helfen.«
»Du
schuldest mir nichts.«
»Ich. habe
eine Schreibstube eröffnet. Du wirst bei mir arbeiten, so gut du kannst und
solange du willst. Deine Hand ist sicherlich steif geworden, aber das gibt sich
wieder.«
»Du schuldest mir nichts, Mula
Ibrahim. Als ich das Boot entdeckte, habe ich mich unwillkürlich daran
festgehalten. Vielleicht dachte ich, daß ich so schneller ans Ufer käme.«
»Ich begleiche keine Schuld. Ich
brauche einen Gehilfen. Du wirst arbeiten, und ich bezahle dich. So wie ich
kann und so wie es rechtens ist. Reichtümer kannst du nicht verdienen. Aber ich
arbeite gern mit jemandem, den ich kenne.«
»Ich habe mich an das Wasser und an
die Stille gewöhnt.«
»Du kannst in deiner Freizeit
herkommen, oder wenn es wenig Arbeit gibt.«
»Ja, ich weiß nicht. Wie du meinst.«
»Der Laden ist hübsch. Wie eine
Schachtel.«
Der Laden lag mitten im
Geschäftsviertel, in Mudželiti, unter dem Uhrturm, klein und unansehnlich, heiß
und stickig im Sommer, kalt wie ein Kerkerloch im Winter, dicht bei den
öffentlichen Bedürfnisanstalten, die unerträglich
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