Da vorne wartet die Zeit: Roman (German Edition)
Prolog am See
I n einer Stadt direkt am See verliert sich die Zeit. Hier sind alle Menschen nur lautlose Begleiter der Unendlichkeit. Alles kann vorbei sein. Jetzt sofort. In diesem Augenblick. Aber da es keine Zeit mehr gibt, gibt es auch keine Endzeit. Jeder Tod vergeht vor dem Grauen der Nacht. Und dann, als wäre er gar nicht da gewesen, beginnt ein neuer Tag.
Keiner der Menschen an diesem Ort weiß, dass sie nur dort sind, um Abschied zu nehmen, von ihrem letzten Atemzug. Denn fernab der Zeit, in diesem dichten Nebel am See, treffen sich die Sterbenden, um noch einmal zu leben.
Sie sehen sich an und lächeln. Sie streiten nicht mehr um das letzte Wort, sie lachen nicht mehr übereinander, sie lachen miteinander. Sie bringen die Abläufe der natürlichen Ordnung durcheinander, ohne etwas zu zerstören. Sie verzeichnen Glück, sie durchstreichen Angst, sie verankern Erinnerungen. Und sie haben keine Ahnung davon, dass diese Stadt nichts weiter ist als die unendliche Weite der Illusion.
Die Menschen in der Stadt am See haben keine Grenzen. Sie können einen einzigen Moment immer und immer wieder erleben, solange sie wollen, solange sie brauchen, um zu verstehen. Sie laufen durch das Echo der Zeit, das aus der Ferne zu ihnen hinüberdringt. Sie wissen nicht mehr, wie es sich angefühlt hat, an eine Stunde, an eine Minute oder an eine Sekunde gebunden zu sein; denn sie haben nur diesen einen Moment, der für die Ewigkeit existiert.
Und diese Ewigkeit.
Sie ist ein unsichtbarer Raum.
Mit verhangenen Fenstern.
Die Menschen in der Stadt am See altern nicht. Sie sind umhüllt von einem geheimnisvollen Zauber, der über den Gebieten der flüsternden Zeitlosigkeit verweilt. Und nachdem sie für immer dort angekommen sind, die Toten der Nacht, die Toten des Tages, die Toten der Zeit; nachdem sie erkannt haben, wie dieser Ort heißt und wohin das Grenzgebiet hinter dem sperrangelweit geöffneten Zeitraum führt – nach diesem Augenblick endet letztendlich dieser unendliche Moment.
Die wandernden Gedanken versammeln sich am Ufer des riesigen Sees, sie setzen sich dort nieder, sie streifen vorsichtig über die winzigen Wellen der Wasserkreise. Dann kommt ein Wind auf, er wispert ein ehrfürchtiges Lied.
Und da verschwinden die Gedanken. Lautlos.
In einem Nebel aus funkelndem Licht.
Genau wie all die Menschen.
Aber keine Angst: Ein Flüstern dieser Erinnerung bleibt für immer. Es legt sich über den See am Rande der Stadt und die sanften Nebelschwaden, die direkt über den Wassertänzern dahinziehen, und bestätigt stillschweigend ein unsterbliches Geheimnis.
Dort. In dieser Stadt am See.
Verläuft sich die Zeit.
Prolog am Waldrand
I n einer anderen Stadt, direkt am Waldrand, verrinnt die knapp bemessene Zeit. Hier befindet sich die wirkliche Welt. Uhren ticken, Menschen stehen unter Kirchtürmen und betrachten nachdenklich die alt gewordene Zeit. Sie berechnen Augenblicke und Sichtweiten. Sie verknüpfen Zeitpunkte mit Hilfe von Zeitdiagrammen und Zeitleisten, aber sie leisten sich keine Auszeit. Stattdessen tasten sie, mit suchenden Fingern, den dunklen Schatten der Sonnenuhr hinterher. Sie vereinbaren Termine, zu festgelegten Tagen, sie verabreden Meetings zu entschlossenen Stunden, sie versprechen Hochzeiten zu unumstößlichen Minuten.
Sie holen Luft, oder sie atmen aus.
In jedem Moment.
Den sie dem Leben zuordnen.
Was auch immer hier geschieht, es ist immer gebunden an eine bestimmte Anzahl von schlagenden Sekunden, die wiederum gebunden sind an eine Formation von Minuten, die in einer Gruppierung von Stunden enden, nur um einen Tag zu begründen, und dann einen weiteren und schließlich, Woche für Woche, Monat um Monat, ein ganzes Jahr und immer weiter.
In der Stadt am Waldrand gibt es viele Nachrufe, sie wispern so laut und klagend auf dem Papier der Zeit, dass sie bis hinüber zu der Stadt am See dringen. Doch während dort der neblige Schleier eine Verbindung von beiden Welten erlaubt, kann keiner in der Stadt am Waldrand bis in die Weiten der Stadt am See blicken.
Einstweilen ist es grau und düster in dieser viel zu großen befremdlichen Stadt. Einsamkeit huscht durch die Straßen, Verlorenheit macht sich breit. Aber da hier die Zeit regiert, und da sie reagiert – auf jedes Geschehen, auf jeden Fehler, auf jeden Verlauf –, geht es trotzdem immer vorwärts. Kein Schmerz, der nicht wächst oder sich verringert, keine Angst, die nicht angreift oder sich zurückzieht. Kein Moment, der
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