Die Goldenen Regeln des friedvollen Kriegers
die Gangster flüchten wollten.
Dieses Erlebnis hat Michael sehr beeindruckt, nicht nur, weil es ihm so einen Schrecken eingejagt hatte. In den nächsten Stunden und Tagen durchlebte er diesen Augenblick in Gedanken immer wieder – wie er in den Gewehrlauf starrte und sich fragte, ob der Mann ihn wohl in den nächsten Sekunden vom Gewicht seines Kopfes befreien würde.
Und er überlegte sich: «Was wäre, wenn ich jetzt plötzlich stürbe – habe ich das Gefühl, daß mein Leben erfüllt ist? Habe ich alles verwirklicht, was ich mir vorgenommen hatte? Was habe ich auf morgen verschoben? Gibt es noch irgend jemanden, dem ich verzeihen oder den ich um Verzeihung bitten muß? Gibt es in meinem Leben noch Dinge, die ich nicht zu Ende geführt habe?»
Als Michael mir von diesem Erlebnis erzählte und wie es sein Leben verändert hat, vertiefte sich meine Einsicht, daß es keine alltäglichen Momente gibt. Da mußte tatsächlich erst ein Mann mit einem Gewehr kommen, damit wir das beide begriffen: daß jeder Augenblick kostbar ist, daß jede Sekunde zählt und wir sie nicht vergeuden dürfen, daß dieser Moment der Augenblick der Wahrheit ist.
2
In der Arena des Alltags
Ein Schüler, von dem nie etwas verlangt wird, was er nicht kann, wird auch nie alles leisten, wozu er fähig ist.
John Stuart Mill
Höhen und Tiefen
Am Schluß meines Buches Der Pfad des friedvollen Kriegers beschrieb ich eine wichtige Erkenntnis. Ich konnte keine anderen Worte dafür finden als folgende:
Die Suche ist unnötig, das Streben führt zu nichts. Alles ist gleich, darum sei glücklich – und zwar jetzt. Hör auf zu kämpfen, laß ab von deinem Grübeln, wirf die Sorgen von dir und fühle dich wohl auf dieser Welt. Du brauchst dich nicht aufzulehnen gegen das Leben. Mach die Augen auf und erkenne, daß du viel mehr bist, als du glaubtest. Du bist schon erlöst!
Hehre Worte, einem ekstatischen Augenblick der Erleuchtung entsprungen. Ein paar Jahre später kamen sie mir vor wie Worte eines Fremden. Ich konnte mich zwar noch an sie erinnern, aber ich konnte sie nicht mehr nachempfinden. Solche hochfliegenden Gedanken helfen uns nicht weiter, wenn wir Schmerzen oder Probleme mit unserem Partner haben oder wenn wir uns den Kopf darüber zerbrechen müssen, wie wir diesen Monat unsere Rechnungen bezahlen sollen.
An jenem Tiefpunkt meines Lebens wurden mir unzählige Türen vor der Nase zugeschlagen, und es schien sich nichts Neues aufzutun. Trotz all meiner Erkenntnisse fühlte ich mich
verloren und war völlig frustriert. Ich tat, was ich konnte, um meine Familie zu ernähren. Ich hatte zwei verschiedene Stellen, fing morgens um halb fünf schon mit der Arbeit an und war abends um sechs fertig. Ich arbeitete als Schreibkraft – das war die einzige verwertbare Fähigkeit, die ich damals besaß. Ich war verschuldet bis über beide Ohren und blickte nie über den jetzigen Augenblick hinaus. Ich tat einfach, was gerade getan werden mußte, blieb für alle Möglichkeiten offen und lebte von einem Tag zum nächsten.
Ein Ausspruch von Socrates half mir, diese düstere Zeit zu überstehen. Er hatte mich damals daran erinnert, daß das Leben in Zyklen verläuft – auf einen Aufstieg folgt immer wieder ein Abstieg, und was ganz unten gelandet ist, kann auch wieder aufsteigen. Unsere Fortschritte gehen oft sehr langsam vonstatten. Wir erinnern uns an etwas, dann vergessen wir es wieder, dann fällt es uns irgendwann wieder ein. Wir machen zwei Schritte vorwärts und einen zurück. Ganz gleich, was für Erleuchtungen wir haben, wir müssen trotzdem nach wie vor den Realitäten des täglichen Lebens ins Auge sehen.
Ein junger Mann hatte fünf Jahre lang mühsam nach der Wahrheit gesucht. Eines Tages, als er die Ausläufer eines großen Gebirges bestieg, sah er von oben einen alten Mann herunterkommen, der einen schweren Sack auf dem Rücken trug. Er spürte, daß dieser alte Mann auf dem Gipfel gewesen war. Endlich hatte er einen Weisen gefunden – einen, der ihm die Frage beantworten konnte, die sein Herz am meisten bewegte.
«Bitte, o Herr», sprach er ihn an, «sag mir, was Erleuchtung bedeutet. »
Lächelnd blieb der Alte stehen. Er blickte den jungen Mann unverwandt an, ließ langsam die schwere Last von seinen Schultern gleiten, legte den Sack auf den Boden und richtete sich auf.
«Aha, ich verstehe», erwiderte der junge Mann. «Aber was kommt nach der Erleuchtung? »
Da holte der alte Mann tief Luft, lud sich den schweren Sack
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