Die großen Erzählungen
in jenen Jahren nicht im Ansatz erahnbar, er konnte es nur restaurativ denken und wünschen. Er und sein Volk auf Wanderschaft mussten erst noch durch das tiefste Dunkel gehen, Wanderschaft, Vertreibung, Heimatlosigkeit gesteigert als »transzendentale Obdachlosigkeit« erfahren. Millionen fanden auf dem Weg durch das Dunkel mit Nissen Piczenik ihr Grab auf dem Grund des Meeres und warten in der teuflischen Obhut des sagenhaften Urfisches Leviathan auf die Ankunft des Erlösers. Millionen verloren dabei, wie viele der Protagonisten der Erzählungen und ihr Autor selbst, das Vertrauen in die Sinnstiftungen höherer Ordnungen. Der Verlust wiegt neben den realen Verlusten an politisch-gesellschaftlichen Wohnrechten doppelt schwer. Die metaphysischen Hoffnungen und Tröstungen, auf die Hiob noch bauen konnte, die göttlichen Heimsuchungen, die der Roman 1930 noch in göttliche Gnade an dem Dulder Hiob verwandeln konnte, kennen die späteren Werke nicht mehr. Der Skeptiker Roth sehnte sie wohl herbei, aber er konnte ob der wachsenden Düsternis nicht mehr daran glauben. Er sehnte seinen Tod herbei, indem er ihm mit schleichender Selbstzerstörung durch Alkohol nachhalf. Dann verschwand er fast lautlos. Er war zwar noch immer nicht zu Hause, aber dort, wo er ankam, wartet er seinerseits in Frieden auf die Ankunft des Messias. Vielleicht ist aber auch der Tod selbst schon die Aufhebung aller Vertreibung und die Erfüllung der Sehnsucht nach Obdach, Geborgenheit und Heimat. Dann ist Galizien kein Ort nirgendwo, sondern eine Chiffre für diesen Tod.
Joseph Kiermeier-Debre
Z EITTAFEL
1894
Moses Joseph Roth wird am 2. September als Sohn des Getreidehändlers Nachum Roth und seiner Frau Maria im galizischen Brody bei Lemberg geboren. Nachum Roth verschwindet noch vor der Geburt des Sohnes auf einer Geschäftsreise und stirbt 1910 in geistiger Umnachtung.
1901-1905
Besuch der Baron-Hirsch-Schule in Brody.
1905-1913
Besuch des Kronprinz Rudolf-Gymnasiums in Brody.
1913-1914
Studium der Philosophie und Germanistik in Lemberg und Wien.
1915
Erscheinen der Novelle ›Der Vorzugsschüler‹.
ab 1916
Teilnahme am Ersten Weltkrieg, anfangs als Feldjäger, später als Mitarbeiter des Pressedienstes. Außerdem Veröffentlichungen von Gedichten und Feuilletonartikeln in verschiedenen Zeitungen in Wien und Prag.
1918
Rückkehr nach Wien.
1919
Mitarbeiter der linksliberalen Tageszeitung ›Der neue Tag‹.
1920
Umzug nach Berlin, wo Roth unter anderem für die Zeitungen ›Vorwärts‹ und ›Die neue Berliner Zeitung‹ Artikel schreibt.
1922
Heirat mit Friederike Reichler (»Friedl«), einer Angestellten der Wiener Gemüse- und Obstzentrale.
1923
Rückkehr nach Wien. Journalistische und literarische Arbeiten entstehen.
Von Oktober bis November wird ›Das Spinnennetz‹ als Fortsetzungsroman in der ›Arbeiter-Zeitung‹ veröffentlicht.
1924
Die Romane ›Hotel Savoy‹ und ›Die Rebellion‹ erscheinen im Ernst Peter Tal-Verlag.
1925
Als Korrespondent der ›Frankfurter Zeitung‹ in Paris. Publikation von ›April. Die Geschichte einer Liebe‹ und ›Der blinde Spiegel‹.
1926
Reise in die Sowjetunion, die zu einer Artikelreihe (›Reise in Rußland‹) und der Abkehr vom Sozialismus führt. Roth ist im Zuge seiner journalistischen Tätigkeit in den nächsten Jahren viel unterwegs und verbringt die meiste Zeit ohne festen Wohnsitz und meist allein in Hotels.
1927
Weitere Artikelserien folgen, darunter ›Reise nach Albanien‹ und ›Briefe aus Deutschland‹. Veröffentlichung von ›Juden auf Wanderschaft‹ und ›Die Flucht ohne Ende‹.
1928
Beginn der tiefen Freundschaft mit Stefan Zweig. Einweisung von Friederike Roth in eine Pflegeanstalt wegen Schizophrenie. Erscheinen von ›Zipper und sein Vater‹.
1929
Publikation von ›Rechts und Links‹. Begegnung mit der Redakteurin Manga Bell.
1930
Zusammenleben mit Manga Bell und ihren Kindern. Im Oktober erscheint ›Hiob. Roman eines einfachen Mannes‹. Mit diesem Werk gelingt Roth der Durchbruch. Seine Reise-Reportagen erscheinen in dem Band ›Panoptikum. Gestalten und Kulissen.‹
1932
Publikation von ›Radetzkymarsch‹.
1933
Emigration nach Paris, wo Roth aber aus Rastlosigkeit immer nur wenige Monate am Stück verbringen wird. Seine Bücher erscheinen nun in holländischen Verlagen. Roths Alkoholsucht wird durch private Probleme und die Enttäuschung über die politische Entwicklung in den nächsten Jahren verstärkt. ›Stationschef Fallmerayer‹ erscheint.
1934
Es
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