Die großen Erzählungen
der Erzählungen erleiden ihn ähnlich und unähnlich zugleich. Die Gewöhnlichen werden nicht bestraft, die von der Sehnsucht Berührten finden sich nicht unbedingt erlöst. Barbara, die Wäscherin aus der gleichnamigen Erzählung, die wie eine Grundskizze zu Franz Werfels Figur der Haushälterin Teta Linek aus dem ›Veruntreuten Himmel‹ wirkt, taumelte »unverstanden und verständnislos[,] hinüber in die Ewigkeit.« (S. 36) Ihrstumpfsinniger Sohn, dem sie auf dem Sterbebett von »der einzigen Liebe ihres Lebens« (S. 35) in zarten Andeutungen sprechen will, gähnt verstohlen und schweigt und geht weg. Andere, wie Fini aus der Erzählung ›Der blinde Spiegel‹, von Herkunft und Geschichte durchaus der unglücklich liebenden Barbara verwandt, erfahren gleichwohl eine Erlösung im Sinne jenes grammatischen Modus »Möge!« oder »Gebe!«. Fini, so scheint es für die Welt und im Polizeibericht, war ins Wasser gefallen und ertrunken. Aber sie hatte in den Himmel gehen wollen zu ihrem Geliebten. »Sie zerschellte«, so der Schlusssatz in der Möglichkeitsform des Traumes, im Irrealis der Illusion, »an den weichen Treppen aus purpurnen und goldenen Wolken.«
Zugrunde gehen auch Abel, der aus New York fortläuft, und der Stationschef Fallmerayer. Er reist einfach ab. »Man hat nie mehr etwas von ihm gehört.« (S. 92) Vom erzählenden Schriftsteller aus der ›Geschichte einer Liebe‹ gibt es natürlich auch keine Nachrichten mehr. Aber er reist nach New York ab, weil er im Gegensatz zu Fallmerayer das Leben vorerst noch für sehr wichtig hält. So denkt auch sein a lter ego , Joseph Roth, dieser Händler von echten Korallen vergleichbaren Poesien. Es treibt ihn wie den umtriebigen Korallenhändler Nissen Piczenik um. Beide haben eine Sehnsucht, eine Sehnsucht weniger nach romantischer Liebe, sondern nach Heimat, aus der sie sich als Ostjuden vertrieben sehen. Die vergebliche Suche macht Joseph Roth zum Lebensthema seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Die reale und generelle Heimatlosigkeit aller ›Juden auf Wanderschaft‹ verschärfte sich ja entschieden in der kurzen Lebensspanne, die Joseph Roth vergönnt war, und zwar auf doppelte Weise: zum einen durch den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und zum anderen durch das Heraufziehen der Nazidiktatur, die Exil oder Vernichtung bedeutete. Für Joseph Roth waren die Zeichen der Zeit um 1925 klar an der Wand zu lesen, undin seinen Erzählungen und Romanen erfahren sie variationsreiche Gestaltung, einerseits als Sehnsucht und Suche nach der verlorenen Zeit in transnationaler Heimat und als Furcht vor heraufziehender obdachloser Zukunft.
Alle seine positiv besetzten Figuren und ihre Geschichten – und das schließt auch die Nichtjuden dieser Geschichten mit ein – verbindet ein Glaubensbekenntnis mit ihrem Schöpfer. Dieses Glaubensbekenntnis steht am Ende der Erzählung ›Die Büste des Kaisers‹, die 1935 erschien. Es ist einem Mann in den Mund gelegt, der für Joseph Roth und seine ihm anverwandten Figuren spricht. Er spricht nicht als engstirniger Konservativer, als nostalgisch-spleeniger Monarchist, wohl aber als einer, der im Exil lebt, der faktisch und geistig heimat- und obdachlos geworden ist. Der Erzähler qualifiziert das Bekenntnis des übernationalen Grafen Morstin gegen den skurrilen Anschein, den die Beerdigungsgeschichte erzeugt, im Vorhinein als »denkwürdig«:
»›Ich habe erlebt‹«, diktiert er dem Grafen in seine Lebenserinnerungen, »›daß die Klugen dumm werden können, die Weisen töricht, die echten Propheten Lügner, die Wahrheitsliebenden falsch. Keine menschliche Tugend hat in dieser Welt Bestand, außer einer einzigen: der echten Frömmigkeit. Der Glaube kann uns nicht enttäuschen, da er uns nichts auf Erden verspricht. Der wahre Gläubige enttäuscht uns nicht, weil er auf Erden keinen Vorteil sucht. Auf das Leben der Völker angewandt, heißt das: Sie suchen vergeblich nach sogenannten nationalen Tugenden, die noch fraglicher sind als die individuellen. Deshalb hasse ich Nationen und Nationalstaaten. Meine alte Heimat, die Monarchie, allein war ein großes Haus mit vielen Türen und vielen Zimmern, für viele Arten von Menschen. Man hat das Haus verteilt, gespalten, zertrümmert. Ichhabe dort nichts mehr zu suchen. Ich bin gewohnt, in einem Haus zu leben, nicht in Kabinen.‹« (S. 154)
Der Auf- und Ausbau eines neuen, übernationalen Hauses in Europa mit Platz für viele Arten von Menschen war für Joseph Roth
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