Die Herrin von Avalon
ihres Vaters und gehörte zu den Geschenken, die er Avalon gemacht hatte, nachdem seine Tochter dort aufgenommen worden war.
»Wir spinnen Wolle zum Wärmen und das schwere Leinen für den Alltag«, sagte die alte Cigfolla. »Aber was werden wir mit so dünnen Fäden machen?« Die Spindel drehte sich schnell, und der beinahe unsichtbare Faden wurde wieder länger.
»Weben wir daraus die Schleier für die Priesterinnen, weil dieser Faden fast vollkommen ist?« antwortete Lina.
»Richtig!« Cigfolla nickte bedächtig und fügte erklärend hinzu: »Aber nicht, weil er besser wäre, sondern nur, weil das Tuch, das daraus entsteht, sehr dünn ist. Das heißt natürlich nicht, daß dein Faden weniger glatt und gleichmäßig sein sollte«, sagte die alte Frau mahnend. »Meine Kinder, ihr solltet nie vergessen, der Apfelbaum ist nicht heiliger als die Eiche, und Weizen ist nichts Besseres als Gerste. Alle Dinge haben ihren Zweck. Einige von euch wollen Priesterinnen werden, die anderen kehren zu ihren Familien zurück, um zu heiraten. In den Augen der Göttin sind alle Lebenswege gleich gut und ehrbar. Ihr müßt euch nur darum bemühen, jede Aufgabe, die SIE euch gibt, so gut wie möglich zu erfüllen. Selbst wenn ihr nur Hanf für Sackleinen spinnt, müßt ihr das nach eurem besten Vermögen tun. Habt ihr mich verstanden?«
Ein Dutzend Augen richtete sich auf das faltige Gesicht der alten Frau und senkte sich unter ihrem strengen Blick schnell wieder über die Spindeln.
»Ihr glaubt wohl, wir lassen euch spinnen, damit ihr mit etwas Nützlichem beschäftigt seid?« Cigfolla schüttelte den Kopf. »Wir könnten das Tuch, das wir brauchen, wie alle anderen Dinge auch, auf den Märkten kaufen. Aber das Tuch, das hier auf Avalon gesponnen wird, hat eine besondere Kraft. Das Spinnen ist wie ein mächtiger Zauber. Habt ihr das schon bemerkt? Wenn wir bei der Arbeit von der Göttin sprechen, dann besteht der Faden nicht nur aus Wolle oder Flachs. Seht euch die Spindeln einmal genau an ... Seht ihr, wie sich die Fäden drehen? Ohne das Spinnen trägt der Wind die Büschel davon, aber zusammengenommen und gedreht werden sie stark. Der Faden wird noch stärker, wenn ihr beim Spinnen singt oder einen Segen flüstert.«
»Welchen Segen singst du in das Leinen, aus dem ein Schleier für die Herrin von Avalon entstehen soll?« fragte Teleri und brach damit das Schweigen.
»In diesen Faden ist alles hineingesponnen, worüber wir gesprochen haben«, antwortete die alte Priesterin. »Kreisläufe und Jahreszeiten, das Kommen und Vergehen ... alles dreht sich wie die Spindel ständig im Kreis. Anderes wird beim Weben noch hinzukommen ... die Vergangenheit und die Gegenwart, die Welt jenseits der Nebel und das Geschick der geweihten Erde dieser Insel, all das entsteht wie das Tuch, und daraus wird ein neues Schicksal.«
»Und das Färben?« fragte Lina.
Cigfolla lächelte. »Die Liebe der Göttin zeigt sich im Blau von Avalon. SIE durchdringt das Gewebe und läßt die Farbe entstehen. Wir sind bei diesem Werk nur IHRE Hände ... «
»Bitten wir darum, daß SIE uns hier auch in Zukunft beschützen möge«, flüsterte Lina.
»Ja, SIE hat uns schon lange Schutz gewährt«, sagte die alte Frau und nickte. »Die meiste Zeit meines Lebens hat es in dem von Römern beherrschten Britannien Frieden gegeben. Wir und die Menschen draußen sind dadurch reicher geworden.«
»Auf den Märkten gibt es viele Waren, aber die Menschen haben nicht genug Geld, um sie zu kaufen«, warf Teleri ein. »Vielleicht ist euch das hier nicht bewußt, aber ich habe Jahr für Jahr die Klagen der Leute gehört, die zu meinem Vater kamen. Ich weiß, welche Not in Britannien herrscht. Alles, was aus dem römischen Reich kommt, wird ständig teurer. Deshalb verlangen die Leute höhere Löhne, damit sie die Dinge kaufen können. Und so erhöhen auch unsere Handwerker und Kaufleute die Preise.«
»Mein Vater sagt, schuld daran sei nur Postumus, der versucht hat, die westliche Hälfte vom Reich abzutrennen«, warf Adwen ein, die zusammen mit Teleri zur Priesterin geweiht werden sollte.
»Aber Postumus ist besiegt worden«, erwiderte Lina.
»Die Wiedervereinigung scheint nicht dazu beizutragen, daß es den Menschen bessergeht. Das Leben wird immer teurer, und unsere jungen Männer müssen irgendwo auf der Welt ihr Glück versuchen. Die Römer dagegen schicken uns keine Soldaten, um unsere Küste zu verteidigen!« Teleri bekam vor Empörung ein rotes Gesicht.
»Das
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