Die Kunst des guten Beendens
und Weite, die sie mit sich selbst, mit ihrem Leben versöhnt. Sie spürt, dass sie auf diese Weise überleben kann.
»Alles hat seine Zeit« verweist auf die Gegenwart. Was im Hier und Jetzt geschieht, hat seine Zeit. Es lässt uns das sehen und fühlen, was ist. Sehen, was wirklich ist, ist eine anspruchsvolle Lebenshaltung. Sie lässt einen versöhnlichen Blick auf die Vergangenheit werfen, denn damals hatte alles seine Zeit und damit seinen Sinn. Ich habe schon an mehr als einer Beerdigung das berühmte Lied von Edith Piaf singen hören: Je ne regrette rien – ich bereue nichts. Alles hat seine Zeit gehabt und gehört zur Einzigartigkeit eines Lebens.»Alles hat seine Zeit« wird im Blick auf die ungewisse Zukunft zu dem, was seine Zeit haben wird. Die Zukunft entsteht aus der Gegenwart und verweist damit wiederum auf die jetzige Wirklichkeit, auf den aktuellen Augenblick.
Was macht die Gewohnheit?
Die Ketten der Gewohnheit sind so schwach, dass man sie kaum bemerkt – bis sie zu stark geworden sind, um gesprengt zu werden.
Samuel Johnson
Choisir, c’est abandonner : Wählen heißt verlassen. Wenn die Tatsache, eine Wahl zu treffen, etwas zu verlassen bedeutet, dann schützt die Gewohnheit vor der täglichen Qual der Wahl. Und auch davor, zu verlassen. Gewohnheit schützt vor Entscheidungen, davor, zu wählen, zu verlassen.
Die meisten Menschen möchten bewahren und behalten, was sie haben: eine Partnerin oder einen Partner, Kinder, eine Arbeit, Besitztümer, das Leben. Nicht grundlos spricht man von der Macht der Gewohnheit. Gewohnheiten geben Sicherheit, und das brauchen die meisten Menschen. Gewohnheiten können einem lieb werden. Man ›wohnt‹ in den Gewohnheiten wie in einem schönen, stabilen, sicheren Haus. Es kann einem scheinbar oder wirklich nichts passieren. Der Gedanke, dass etwas die schönen Gewohnheiten erschüttern könnte, wird gern verdrängt. Das Sichere und Vertraute wird nicht freiwillig aufgegeben. Da müsste eine andere Macht in ein Leben eindringen, die sich gegen die Macht der Gewohnheit stellt.
Eva erzählt: »Es war vor zehn Jahren. Ich hatte mich in meinem Leben gut eingerichtet. Unsere drei Kinder waren im jugendlichen Alter und wohlgeraten. Mein Mann und ich hatten eine Beziehung, in der sich viel in einem lebenswerten Sinn eingependelt hatte. Wir hatten viele Stürme und Kämpfe in unserer Liebe überstanden. Wir arbeiteten beide in befriedigendenBerufen, genossen das Aufwachsen unserer Kinder und hatten unseren Haushalt nach vielen Sturmjahren so organisiert, dass wir uns alle wohl dabei fühlten. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wie damals eine Freundin, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte, zu uns zu Besuch kam. Wir saßen auf der Terrasse beim Tee, als sie mich fragte, wie ich mir die nächsten Jahre vorstellen würde. Ich antwortete ihr, dass ich das jetzige Leben gern so weiterführen möchte. Ich hätte ein reiches Leben, fände es spannend mit älter werdenden Kindern und ich würde meinen erweiterten beruflichen Spielraum genießen. Ich war tief überzeugt von meinen Wünschen.
Es verging kein halbes Jahr, bis ich mich völlig unerwartet in einen Arbeitskollegen verliebte. Wir kannten uns schon lange und hatten uns immer gemocht. Ich war nie in ihn verliebt gewesen. Die Liebe schlug ein wie ein Blitz. Es war bei einer Sitzung, wo sich unsere Blicke auf einmal anders begegneten. Es berührte mich zutiefst. Ich fühlte mich auf eine völlig neue Weise erkannt und gesehen. Das verwirrte mich, und ich wusste vorerst nicht, ob das nur für mich so war oder auf Gegenseitigkeit beruhte. Die Blickkontakte der ganz neuen Art wurden häufiger und meine Verwirrung nahm zu. Gleichzeitig erfüllte mich ein tiefes Glücksgefühl: ich wurde geliebt und begehrt.
Ich hatte diese Liebe nicht angestrebt, nicht erwartet und nicht gesucht, doch ich war offen und bereit dazu. Ich wehrte mich nach Kräften, um der Macht der unverhofften Liebe die andere Macht des bisher aufgebauten eigenen und Familienlebens – dieser schön und sicher gewordenen gewohnten (bewohnten) Wirklichkeit – entgegenzusetzen. Es stand viel, zu viel auf dem Spiel. Ich dachte damals viel über Gewohnheiten, über das Gewohnte, Vertraute, Bewährte nach. Ich hatte an das vertraute Bewährte geglaubt und nun war alles völlig anders geworden. Die Gewohnheit zerbrach, fiel in Trümmer, hielt mich nicht mehr. Dabei hatte ich halten und bewahren wollen. Es ging nicht mehr.«
Menschen
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