Die Wahrheit eines Augenblicks
1
Montag
Und alles wegen der Berliner Mauer.
Wäre die nicht gewesen, hätte Cecilia den Brief nie gefunden, und sie hätte jetzt nicht hier am Küchentisch gesessen und sich zwingen müssen, ihn nicht gleich aufzureißen.
Der Umschlag war grau und mit einer feinen Staubschicht bedeckt. Auf der Vorderseite war er mit einem kratzigen, blauen Kugelschreiber beschrieben, in einer Handschrift, die ihr so vertraut war wie ihre eigene. Cecilia drehte den Briefumschlag um. Er war mit einem gelblich verfärbten Klebestreifen versiegelt. Wann er wohl geschrieben worden war? Er fühlte sich alt an, viele Jahre alt, aber es gab keine Möglichkeit, es genau herauszufinden.
Nein, sie würde ihn nicht öffnen. Cecilia war völlig klar, dass das keine gute Idee wäre. Sie war eine resolute Person, entschlusskräftig wie niemand sonst, den sie kannte, und sie hatte bereits entschieden, den Brief nicht zu öffnen. Wozu also noch weiter darüber nachdenken?
Und ganz ehrlich, auch wenn sie ihn öffnen würde – was käme schon groß dabei heraus? Jede andere Ehefrau würde ihn sofort aufreißen. In Gedanken ging sie alle ihre Bekannten durch und stellte sich vor, wie sie reagieren würden, wenn sie sie durchtelefonieren und nach ihrer Meinung fragen würde.
Miriam Openheimer: Na klar! Mach ihn auf!
Erica Edgecliff: Willst du mich veräppeln? Öffne ihn, los, mach schon!
Angela Bungonia: Natürlich sollst du ihn aufmachen. Und lies ihn mir am besten gleich vor!
Sarah Sacks: …
Nein, Sarah anzurufen wäre zwecklos, denn Sarah war entscheidungsunfähig. Wenn Cecilia sie fragte, ob sie Tee oder Kaffee wolle, legte sie erst einmal die Stirn in Falten, sinnierte eine geschlagene Minute lang darüber, was gegen das eine und für das andere spräche, bis sie endlich eine Antwort gab: »Kaffee! Nein, warte, Tee!« Nein, das konnte sie jetzt nicht brauchen, das würde sie wahnsinnig machen.
Mahalia Ramachandran: Auf gar keinen Fall darfst du den Brief aufmachen. Das wäre deinem Mann gegenüber völlig respektlos.
Mahalia, mit ihren riesengroßen braunen Augen und ihrem moralischen Blick, konnte hin und wieder etwas zu selbstsicher sein.
Cecilia ließ den Brief auf dem Küchentisch liegen und stand auf, um Wasser aufzusetzen.
Diese verdammte Berliner Mauer! Und dieser verdammte Kalte Krieg und dieser verdammte … wer auch immer es damals gewesen war, der neunzehnhundert-soundso-vierzig darüber gegrübelt hatte, wie man das Problem mit diesen undankbaren Deutschen am besten lösen könne, und der plötzlich auf die glorreiche Idee gekommen war: »Jawohl, ich hab’s! Wir bauen eine riesengroße, hässliche Mauer und halten die Scheißkerle umzäunt.«
Nun, dieser verdammte Kerl hatte dabei vermutlich nicht wie ein britischer Oberstabsfeldwebel geklungen.
Esther würde wissen, wer als Allererster die Idee mit der Berliner Mauer gehabt hatte. Und Esther könnte ihr wahrscheinlich auch sein Geburtsdatum sagen. Klar musste es ein ER gewesen sein. Nur ein Mann könnte sich etwas so Rabiates einfallen lassen, etwas, das so saudumm und doch so äußerst effektiv war.
War das sexistisch gedacht?
Cecilia füllte den Wasserkocher auf, stellte ihn an und wischte mit etwas Küchenkrepp die Wassertropfen aus dem Spülbecken, bis es glänzte.
Vergangene Woche in der Schule, kurz bevor die Versammlung des Festtagskomitees begonnen hatte, hatte ihr eine der Mütter, deren drei Söhne in etwa so alt waren wie Cecilias drei Töchter, vorgeworfen, dass manche ihrer Bemerkungen »ein klitzekleines bisschen sexistisch« seien. Dabei konnte Cecilia sich gar nicht mehr erinnern, was genau sie gesagt hatte, aber sie hatte ohnehin nur gescherzt. Egal. Wieso sollten Frauen nicht sexistisch sein dürfen, jedenfalls die nächsten zweitausend Jahre oder so, bis die Verhältnisse wieder ausgeglichen waren?
Ja, konnte schon sein, dass sie sexistisch war.
Das Wasser kochte. Sie goss sich einen Earl Grey auf, zog den Teebeutel im Wasser hin und her und sah zu, wie sich schwarze, spiralige Linien darin ausbreiteten. Es gab Schlimmeres, als sexistisch zu sein. Zum Beispiel, zu der Art von Leuten zu gehören, die zwei Finger aneinanderdrücken, wenn sie »ein klitzekleines bisschen« sagen.
Cecilia schaute in ihren Tee und seufzte. Ein Glas Wein wäre jetzt schön, aber weil Fastenzeit war, verzichtete sie auf Alkohol. Sie hatte noch eine teure Flasche Wein da, einen Sirah, den sie für Ostersonntag besorgt hatte, wenn fünfunddreißig Erwachsene und
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