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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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musste ihr aus Bosheit die Nummer gegeben haben. Das Telefon war Frankies Instrument. Mochten andere Geige, Harfe oder Schofar spielen - für Frankie war es jedes Mal das Telefon.
    Becker hörte ihr eine ganze Weile zu: ihrem Weinen, worin sie unvergleichlich war, ihren Schmeicheleien und ihren Schwüren. »Ich werde sein, was immer du willst«, sagte sie. »Sag’s mir nur, und ich bin es!«
    Doch jemand erfinden, das war das letzte, was Becker wollte. Nicht lange nach diesem Telefongespräch kamen Kurtz und der Psychiater zu dem Schluss, dass es an der Zeit sei, Charlie wieder ins Wasser zu werfen.
    Die Tournee lief unter dem Titel »Ein Strauß Lustspiele«, und das Theater diente wie andere, in denen sie bereits gespielt hatte, als Treffpunkt für Frauengruppen und Spielschule und in Wahlzeiten ohne Zweifel auch als Wahllokal. Es war ein erbärmliches Stück und ein mieses Theater und kam am unteren Ende ihres Niedergangs. Das Theater hatte ein Blechdach und einen Holzfußboden, und wenn sie mit den Füßen aufstampfte, kamen ganze Staubwolken aus den Ritzen. Sie hatte damit angefangen, nur noch tragische Rollen zu übernehmen, denn nach einem nervösen Blick auf sie war Ned Quilley davon ausgegangen, dass sie nur Tragödien wolle; Charlie selbst war es aus nur ihr bekannten Gründen genauso gegangen. Doch sie kam rasch dahinter, dass ernste Rollen, falls sie ihr überhaupt etwas bedeuteten, zuviel für sie waren. Sie schrie oder weinte an den unpassendsten Stellen, und ein paar Mal war es sogar vorgekommen, dass sie einen Abgang hatte vortäuschen müssen, um sich wieder in den Griff zu bekommen.
    Häufiger war es jedoch die Bedeutungslosigkeit, die ihr zu schaffen machte; sie hatte einfach keine Lust und - was schlimmer war - kein Verständnis mehr für das, was in der westlichen Mittelschicht als Schmerz galt. So kam es schließlich, dass die Komödie doch die geeignetere Maske für sie war, und durch diese Maske hatte sie zugesehen, wie ihre Wochen abwechselnd zwischen Sheridan und Priestley und dem allermodernsten Genie vergangen waren, dessen Darbietung im Programmheft als ein mit widerborstigem Witz angereichertes Souffle bezeichnet wurde. Sie hatten es in York gespielt, Nottingham aber Gott sei Dank ausgelassen; sie hatten es in Leeds und Bradford, Huddersfield und Derby gespielt; und Charlie wartete immer noch darauf, dass das Souffle aufging oder der Witz übersprang; wahrscheinlich lag jedoch die Schuld bei ihr selbst, denn in ihrer Vorstellung leierte sie ihren Text runter wie ein trunkener Boxer, der entweder böse Schläge einstecken oder für immer zu Boden gehen muss.
    Hatte sie keine Proben, hing sie herum wie ein Patient im Wartezimmer des Arztes, rauchte und las Illustrierte. Doch als der Vorhang heute abend wieder aufging, trat anstelle der Nervosität eine gefährliche Trägheit, und am liebsten wäre sie eingeschlafen. Sie hörte ihre Stimme die ganze Tonleiter hinauf- und hinuntergehen, spürte, wie ihr Arm dorthin griff, ihr Fuß jenen Schritt machte; sie machte eine Pause an einer Stelle, an der es für gewöhnlich einen todsicheren Lacher gab, rief jedoch statt dessen eine verständnislose Stille hervor. Gleichzeitig traten ihr Bilder aus dem verbotenen Album vor Augen, von dem Gefängnis in Sidon und der Schlange wartender Mütter an der Mauer; von Fatmeh; vom nächtlichen Schulungszimmer im Lager, in dem sie die Schlagworte für die Demonstration auf T-Shirts bügelte; vom Luftschutzbunker und den stoischen Gesichtern, die sie ansahen und sich fragten, ob sie vielleicht Schuld daran habe. Und von Khalils behandschuhter Hand, wie sie mit dem eigenen Blut rohe Klauenzeichen an die Wand malte.
    Die Garderobe war gemeinschaftlich, doch Charlie suchte sie in der Pause nicht auf. Statt dessen stand sie draußen vorm Bühneneingang im Freien, rauchte und zitterte und starrte die neblige Straße hinunter und überlegte, ob sie einfach fortgehen und immer weiter gehen sollte, bis sie hinfiel und von irgendeinem Auto überfahren wurde. Sie riefen ihren Namen, und sie hörte, wie Türen zuschlugen und Füße liefen; doch es schien das Problem der anderen zu sein, nicht ihres, sollten sie sich damit befassen. Nur ein letztes - ein allerletztes - Gefühl von Verantwortung brachte sie dazu, die Tür aufzumachen und wieder hineinzugehen. »Charlie, um Himmels willen? Charlie, verdammt noch mal, was ist denn los?«
    Der Vorhang ging auf, und sie stand wieder auf der Bühne. Allein. Langer Monolog,

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