Die Liebe in Grenzen
Gedicht schrieb.
⦠von bunten Pferden, alle aus dem Land,
das lange zögert, eh es untergeht â¦
» Schluss jetzt! « , unterbrach uns die Mutter, küsste mich beim Abschied auf den Scheitel, länger als sonst, vielleicht scheint mir das aber auch nur im Nachhinein so. Die Fingerspitzen hatte sie dabei leicht auf meine Schultern gelegt, als hätte sie Sorge, ich könnte darunter zerplatzen. Den Vater lieà sie ungeküsst.
» Macht schnell, es ist höchste Zeit! « Dabei konnte unsere Pünktlichkeit oder Unpünktlichkeit sie zu diesem Zeitpunkt kaum noch interessiert haben. In Gedanken muss sie schon beim Kofferpacken gewesen sein, um uns bei unserer Rückkehr mit ihrer Abwesenheit und einem Zettel am Kühlschrank zu überraschen: » Wenn ich nicht fortgehe, werde ich ewig bereuen, es nicht wenigstens versucht zu haben. «
Die Erdbeermarmelade stand abends noch offen auf dem Tisch. Die ganze Küche roch danach, und Papa antwortete auf meine Frage, wann die Mutter denn zurückkäme, mit einem Kopfschütteln. » Du kannst eines von Nachbars Katzenjungen haben « , sagte er leise und begann die Reste unseres letzten Familienfrühstücks wegzuräumen.
Ich verstand, was ich nicht verstehen konnte, und freute mich trotzdem auf die Katze, während ich gleichzeitig geräuschlos zu weinen versuchte, um Papa nicht noch trauriger zu machen.
Nach zwei Wochen rief sie das erste Mal an, wollte mich sprechen, aber ich drückte das Kätzchen an mich und drehte dem Telefon den Rücken zu. Mein Vater weigerte sich, mich zu zwingen, sagte ruhig, aber bestimmt: » Lass ihr Zeit! « , und: » Nein, das werde ich mit Sicherheit nicht tun! « Dann legte er den Hörer auf, während ich meine Mutter noch darin reden hörte. Diese Härte passte so wenig zu ihm, dass ich Angst bekam. Ich kann nicht genau sagen, aus welchem Grund, aber wir sprachen nie wieder über sie. Vielleicht, weil jeder von uns auf seine Weise zu sehr damit beschäftigt war, ein Verschwinden, das nicht wahr sein durfte, im Alleingang zu überleben.
» Du warst noch ein Kind, er hätte dich mit deinem Verlust nicht dir selbst überlassen dürfen! « , hat Manu einmal gesagt.
Ich habe widersprochen: » Er war wahrscheinlich gelähmt durch seinen eigenen Kummer, und er hat nie viel vom Reden über Probleme gehalten, das stimmt. Aber er war für mich da, und auf seine Art hat er weiteres Unheil von mir ferngehalten, so gut er eben konnte. «
Dass er mich trotz Anraten des Schulpsychologen auch nicht zum Therapeuten schicken wollte, als ich mit elf Jahren anfing, in der Schule zu randalieren, habe ich Manu nicht erzählt, sie hätte es nur gegen ihn verwendet. Aber mein Vater hat letztlich verhindert, dass man mich zum » Sorgenkind « stempelte.
⦠und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel â¦
Eine simple Postkarte, ein kleiner Hinweis, und gleich spult sich in meinem Kopf viel mehr ab als die Zeilen eines Gedichts. Es gibt nur einen, der das so leicht bei mir auslösen kann. Und es kommt auch nicht Papas bedächtiger Pfeifenraucher-Bass angeweht, sondern diese andere Stimme, lauter, schneller, heftiger, die Stimme von dem, den ich seit drei Monaten zu vergessen versuche, der von diesem letzten Familienfrühstück weià und vom Karussell-Gedicht, weil ich es ihm â und nur ihm â mit sämtlichen Einzelheiten erzählt habe. Als ich mit meiner Geschichte fertig war, unsicher auf seine Reaktion wartend, weil ich es nicht gewohnt war, sie vor jemand anders derart auszubreiten, hatte er einen Gedichtband aus seinem Regal geholt, ihn gezielt aufgeschlagen und mir Rilkes » Das Karussell « vorgelesen, an einem Sonntagmorgen, gar nicht so lange und doch eine Ewigkeit her, seine nackten Knie waren unter dem Buchdeckel angewinkelt, während mir eine erste Ahnung davon kam, dass wir eine Grenze zu viel überschritten hatten.
Sein überspannter Tenor mit scharfer norddeutscher Artikulation dringt jetzt wieder in mein Hirn, breitet sich dort aus, noch bevor ich Zeit finden kann, geeignete SelbstschutzmaÃnahmen zu ergreifen:
Und hält sich mit der kleinen heiÃen Hand,
dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge â¦
Auch das hat er an sich gezogen, sich einverleibt, denn seine Stimme hat die Zeilen mit neuen Klängen überspielt, den Erdbeergeruch daraus vertrieben, das Bild des traurigen
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