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Die Mutter aller Stürme

Die Mutter aller Stürme

Titel: Die Mutter aller Stürme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Barnes
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jetzt so angeschwollen, daß sie sich
vor den Toren der Ruinenstadt staut; lange Schlangen von Menschen
warten auf den regennassen grünen Hängen, Trauben von
Menschen kleben an jedem Zugang, aber sie werden zügig durch das
Tor geschleust.
    »Warum sind sie alle weiß gekleidet?« fragt Mary
Ann plötzlich.
    Das sind sie nicht. Wenn du dich umschaust, siehst du manchmal
einen normalen Anzug und hie und da ein buntes Kleid. Aber die
meisten von ihnen tragen weiße Festtagskleidung; sie haben wohl
die Gelegenheit gehabt, sie anzulegen, bevor sie hier heraufkamen.
Sie machen uns allen viel Ehre, erklärt Carla.
    Das war Mary Ann vorher schon bekannt, und eigentlich hatte sie
auch etwas anderes gemeint. Sie wollte den Anlaß der Feier
wissen. Ihr war nämlich nicht ganz klar, weshalb diese Leute
sich über das Chaos, das sie und ihresgleichen verursacht
hatten, freuen oder sich auch nur dafür interessieren sollten.
Wären sie nicht alle besser dran ohne das Kompetenzgerangel und
den Medienrummel – so ein Unfug, die Angelegenheit dadurch zu
einer Sensation aufzubauschen, daß sie eine Frau mit rotem
Haar, strammem Hintern und Riesen-Titten als Opfer
präsentieren.
    Das Methan war schon immer dort unter dem Meeresgrund und hat
auf seine Freisetzung gewartet – das ist in der Vergangenheit
geschehen und wird auch in der Zukunft wieder geschehen. Carla
ist unendlich geduldig, aber wenn man bedenkt, daß Carla sich
zwischen jedem Wort, daß sie zu Mary spricht, Tausende von
Menschen-Jahren mit Louie unterhalten kann, ist es auch nicht
verwunderlich, daß sie sich Geduld leisten kann. Was das
übrige betrifft… die Leute machen zuviel Aufhebens darum.
Sie halten dich für wichtig, weil du auf XV zu sehen bist, und
sie finden XV wichtig, weil es interessant ist und weil sie in die
Großstadt fahren müssen, um es auszuprobieren – der
Gedanke, einen XV-Hausanschlufl zu haben wie los norteamericanos ist ihnen noch fremd. Aber das heißt noch lange nicht,
daß sie sich für eine gesichtslose Masse halten oder
daß sie sich nur mit den Augen der Massenmedien der reichen
Länder betrachten.
    Mary Ann sitzt nachdenklich da, die Arme um die langen Waden
geschlungen, die ihrer Meinung nach wohl auch der Grund dafür
sind, daß sie überhaupt hierher gekommen ist. Es stimmt
natürlich, daß sie wie viele andere immer der Ansicht war,
die Menschen würden sich über ihr Selbstbild
definieren… aber nun, wo Carla es angesprochen hat, drängt
sich ihr immer öfter der Gedanke auf, daß ihr Selbstbild
wirklich das entscheidende Kriterium ist, aber nicht für die
Bauarbeiter und Kellner, sondern für die Leute, die am Tisch
sitzen und sie beobachten. Und wenn dem tatsächlich so sein
sollte, dann… dann haben Leute wie Mary Ann, nein, Teufel,
man muß ein wenig Würde bewahren und sagen ›Leute wie
Synthi Venture‹, sich lange Zeit vielleicht etwas zu wichtig
genommen?
    Sie blickt hinauf zum Himmel, der jetzt blau ist, und sieht die
umliegenden Täler in Sonnenlicht getaucht, aber sie sieht auch,
daß Louie die ringsum befindlichen Wolken gewaltsam
zurückhält; am Horizont ist ein langer blauer Streifen zu
sehen, der wie verschmierte Tinte am Horizont einer
Landschaftsmalerei aussieht. Die tiefstehende Sonne erwärmt das
Land sehr schnell, und das Sonnenlicht tanzt auf dem Wasser, das die
antiken Steine bedeckt.
    Sie lacht. Obwohl schon oft Wasser von diesen Steinen
hinabgeflossen ist, hat es diesmal eine besondere Bedeutung, denn
jetzt fließt das Wasser vor ihren Augen ab, und alle Leute
betrachten diesen Vorgang mit ihren Augen – und werden ihn so in
Erinnerung behalten. Das erinnert sie an etwas, das ihr Onkel Jack
– genauer gesagt der Onkel ihres Vaters – immer zu sagen
pflegte: »Diese verdammten Medien machen aus jeder Mücke
einen Elefanten.«
    Aber es gibt doch sicher große Dinge? Allein schon
deshalb, weil es acht Milliarden Menschen auf dem Planeten gibt
– vor einem halben Jahr waren es noch neuneinhalb Milliarden
– und für diese Menschen war die Frage, was es zum
Abendessen geben würde, immer wichtiger als Politik, Wirtschaft
und dieser ganze Religions- und Kunst-Kram… was nicht bedeutet,
daß diese Dinge nun verschwunden wären, und überhaupt
hing es zum Teil auch von ihnen ab, was es zum Abendessen geben
würde beziehungsweise ob es überhaupt etwas geben
würde.
    Bei diesem Gedanken richtet sie sich auf und sagt sich: Was
auch immer diese Milliarden Menschen von diesem Augenblick behalten
werden,

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