Helmut Schmidt - Der letzte Raucher seinen Bewunderern erklärt
„Haben Sie gesehen, wie viel er geraucht hat?“
Nach jedem Fernsehgespräch mit Helmut Schmidt hagelt es Post an die zuständige Redaktion. Er hat während der Sendung scharfsinnig und pointiert Themen der deutschen und internationalen Politik analysiert, nichts und niemanden mit Lob und Spott verschont. Er trat rhetorisch brillant auf. Und er rauchte dabei.
„Ist es möglich, eine Aufzeichnung der Sendung von heute Abend zu erhalten?“, fragt dieses Mal Francesca P., und viele Zuschauerinnen und Zuschauer teilen – wie immer – ihren Wunsch. „Hier möchte ich mich für eine wunderbare Sendung bedanken“, schwärmt Eberhard L., „eine ganz tolle Sache und was für ein Mann – Herr Schmidt. Vielen Dank, ich bin Stunden später immer noch völlig in den Bann gezogen.“
Einspruch gibt es nicht gegen den Politiker Helmut Schmidt, sondern nur gegen den Raucher, der das Studio während der 45 Minuten Sendezeit in dichten Nebel hüllte.
„Es mag ja durchaus sein und ist auch wohl unumstritten, dass Herr Schmidt als einer der herausragendsten Politiker anzusehen ist, doch das ständige Rauchen während des Gesprächs“, beschwert sich Reinhard B., „und sein Raucherhusten waren eine Zumutung für alle Zuschauer und eine – wie ich finde – deprimierende Darstellung des ehemaligen Bundeskanzlers.“
Zuschauerreaktionen wie diese treffen vielfach ein.
Interviews mit Helmut Schmidt gehören zu den letzten Highlights im deutschen Fernsehen. Unzählige Interessierte kreuzen schon Tage vorher, wenn sie das Programmheft der folgenden Wochen durchblättern, die Gesprächssendung mit Helmut Schmidt rot an. Für diesen Abend nehmen sie sich nichts anderes vor. Sie werden gebannt vor dem Fernseher sitzen, wenn der Altbundeskanzler spricht. Und dabei raucht wie ein Schlot.
Ist der Tag der Ausstrahlung gekommen, enttäuscht Helmut Schmidt die Erwartungen seiner Zuschauerinnen und Zuschauernicht. Er wägt seine Worte und schnauft dabei, er schnupft und faucht. Er hustet und raucht. Er sinniert vor sich hin, fällt messerscharfe Urteile und blafft, wenn er es für richtig hält, die Gesprächspartnerin oder den Gesprächspartner harsch an. Seine Antworten wirken nie geprobt, wie bei den Berliner Politikern unserer Zeit. Helmut Schmidt scheint um jedes treffende Wort aktuell zu ringen, auch wenn er eine Frage schon oft gehört und beantwortet haben mag. In seinen Kunstpausen sammelt er Kraft und Gedanken für den nächsten, gelingenden Anlauf. Dann nimmt er sich Zeit zur Erklärung der Welt im Allgemeinen und der Bundesrepublik, die ihm so sehr am Herzen liegt, im Besonderen. Die Dinge sind zu kompliziert, um sie in zwei, drei knappe Sätzen zu packen. Helmut Schmidt fasst den Sachverhalt in so viele Sätze, wie dafür nötig sind, und drückt sich gleichwohl – oder gerade deshalb – stets präzise und auf den Punkt aus.
Der Altbundeskanzler erfüllt die Erwartungen der Zuschauer noch in einer anderen Hinsicht, denn er raucht eine Zigarette nach der anderen. Kaum ist ein Glimmstängel abgebrannt, greift der alte Herr nach einem neuen. Aschenbecher und Zigarettenschachtel sind stets in Reichweite bereitgestellt. Helmut Schmidt zieht die Zigaretten in kurzen Abständen und dabei ohne Theatralik aus der Packung. Er behandelt das als Beiwerk zum Nachdenken und Sprechen, zu Analyse und Ausdruck.
Das Beiwerk zeitigt sichtbare Folgen. Rauchschwaden steigen im anfangs aseptisch reinen Studio auf. Das Fernsehbild wird mit der Zeit milchig. Sandra Maischberger, Reinhold Beckmann oder die anderen Interviewer lassen sich ob des Zigarettengestanks und der Schwaden nichts anmerken – sie wussten ja, auf was sie sich einlassen. Sie machen lediglich gegen Ende des Gesprächs, sehr diszipliniert, eine unvermeidliche Frage daraus. Auf seinen Zigarettenkonsum angesprochen, reagiert Helmut Schmidt leicht verärgert. Er lässt durchblicken: Ihr habt gewollt, dass ich hier Rede und Antwort stehe, also nehmt mich gefälligst, wie ich bin!
Die Wirkung eines in Rauchschwaden gehüllten Fernsehauftritts von Helmut Schmidt, zuletzt kurz vor Weihnachten, ist phänomenal. Ganz Deutschland redet am nächsten Vormittag davon,„auf der Arbeit“ oder abends beim Plausch im Freundeskreis. Für einen kurzen Moment gibt es noch einmal das verbindende Gefühl, am Abend vorher dieselbe Sendung im Fernsehen gesehen zu haben und davon gleichermaßen begeistert worden zu sein, wie einst in den siebziger und achtziger Jahren, als es nur wenige
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