Die Nachzüglerin (German Edition)
dir", versprach ich dem
Tier, das mich unverwandt anstarrte.
"Ich kämpfe nicht gegen andere Frauen. Ich kämpfe
nur gegen mich selbst."
Meine Zunge fühlte sich seltsam an beim Sprechen:
schwer und taub. Wie nach einer örtlichen Betäubung.
KAPITEL 6
Ich fuhr allein zum Fußballstadion. Es war zu dunkel,
um die Gesichter zu erkennen, ohne vor den
Menschen stehen zu bleiben. Insa hatte sich ein Tuch
über den Kopf gezogen, ich erkannte sie erst, als sie
mir um den Hals fiel:
"Gut, dass du wenigstens hier bist, Franka. Ich habe
Alexej verloren. Ich hatte schon Angst, dass ich alleine
hier herumrennen muss."
Viele von den alteingesessenen Nazis hatten hölzerne
Spazierstöcke und trugen Strickjacken. Früher waren
sie schlesische Flüchtlingskinder, heute verwitterten sie
über ihren Kreuzworträtseln. Es war ihnen so
langweilig dabei, dass sie zu Ausländerfeinden wurden.
Eine ultrarechte Partei hatte eine ganze Halle voller
indoktrinierter Rentner versammelt. Sie nahmen uns
nicht sonderlich zur Kenntnis. Wir rannten durch den
finsteren Park und versuchten an die Halle
heranzukommen, um mit Trillerpfeifen und Geschrei
die Veranstaltung zu stören. Da an allen Eingängen der
Umzäunung Polizisten standen, war dies unmöglich.
Mit ihren Helmen und Schlagstöcken schützten sie die
Faschisten und hielten uns außer Hörweite. Eine alte
Frau schrie auf einen Polizisten ein: "Ich war selber in
Dachau. Ihr werdet schon sehen, was die mit euch
machen, wenn es wieder so weit ist. Wenn ihr denen
helft, seid ihr die gleichen Verbrecher."
Mehr konnte ich nicht verstehen. Die Frau war schon
ganz heiser. Der Polizist verzog keine Miene. Ein paar
Demonstranten versuchten, einen Sprechchor in Gang
zu bringen. "Deutsche Polizisten schützen die
Faschisten." Insa und ich fielen mit ein, doch dann
hörten wir auf, vielleicht weil wir uns voreinander
schämten. Insa stieß mich mit dem Ellenbogen in die
Rippen:
"Wir
können
uns
auch
auf
eine
Autobahnbrücke stellen und Autos anschreien."
"Lass uns nach Hause gehen. Dieses Land geht auch
ohne uns vor die Hunde", drängte ich.
"Wir müssen Alexej suchen." Insa nahm mich an der
Hand und zog mich durch die Menge. Ich machte
mich los.
"Alexej kann lesen und schreiben. Er ist sicher in der
Lage, alleine nach Hause zu gehen."
Ich hatte keine Lust, ihm zu begegnen, da ich Angst
hatte, er würde mich nach meinem Auftritt heute
Morgen ignorieren. Daher bat ich Insa noch einmal,
ohne ihn abzufahren. Einen Augenblick kniff sie die
Lippen zusammen, dann fing sie an, mich zu belehren:
"Wenn die Bezugsgruppe am Ende einer Aktion nicht
vollständig ist, muss davon ausgegangen werden, dass
die Fehlenden eingefahren sind."
Das schmeckte bitter.
"Du willst doch nicht sagen, dass du mit Alexej eine
Bezugsgruppe hast?"
Ein übler Verdacht kroch mir die Speiseröhre hoch.
War Alexej etwa auch mit Insa befreundet?
"Nein", lachte sie. "Aber Alexej hat wirklich oft Pech
gehabt."
Ich schimpfte mich insgeheim für mein Misstrauen, da
machte sie mir einen Vorschlag, der mich in Panik
versetzte: "Wir gehen einfach zu ihm. Wenn er noch
nicht zu Hause ist, können wir immer noch beim
Ermittlungsausschuss anrufen."
Die Nummer hatten wir uns auf die Hand geschrieben.
Wenn jemand verhaftet wurde, musste er den
Umstehenden seinen Namen zurufen, damit sie ihn
dort melden konnten. Ich durfte Insa nicht alleine zu
ihm fahren lassen. Es konnte mir doch nicht egal sein,
was mit ihm passiert war. Holger machte uns die Tür
auf. Er hatte eine noch nicht angezündete Zigarette in
der Hand und trug eine Sonnenbrille, obwohl es
bereits Nacht war. Als er uns beide in der Tür stehen
sah, nahm er sie ab, wie um besser sehen zu können.
"Jetzt seid ihr komplett", röhrte er und ließ uns an sich
vorbeigehen.
Alexej kam uns auf dem Flur entgegen. Er sah bleich
aus. Er fasste uns beide an der Hand. "Kommt rein."
Sie saß auf dem Sofa. Ich erkannte sie sofort. Sie hatte
den gütigen Blick der Frau, die ich in der Nacht mit
Alexej gesehen hatte. Ich wollte sie nicht direkt
anschauen, weil mir das Blut im Kopf rauschte und das
Herz raste, aber ich umarmte Anna, als wäre sie der
Schatten, der mir auf den Fersen gewesen war.
"Menja savut Franka", stotterte ich. Mein Russisch war
zu schlecht. Es beruhigte mich, dass ich mich nicht mit
ihr unterhalten konnte. Nachdem ich mich auf ein
herumliegendes Kissen gesetzt hatte, verharrte ich
reglos. Ich sah, wie Alexej rauchte, wie Insa ihm von
der Demonstration erzählte und wie Anna
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