Die Nachzüglerin (German Edition)
dazu
lächelte, als müsste sie uns lieb haben, weil Alexej uns
auch lieb hatte oder umgekehrt. Es war kein falsches
Lächeln. Alles an ihr war echt. Sie war gekleidet wie
eine Filmschauspielerin aus den Siebzigerjahren. Sie
trug einen langen braunen Rock und hohe Lederstiefel
mit Absätzen. Ihre dauergewellten, rotbraunen Haare
waren mit Haarspray frisiert. Ihre Augen strahlten
dennoch so gütig, dass wir uns als billige Fälschungen
vorkommen mussten. Holger kam grinsend ins
Zimmer und fragte: "Alles klar?"
Er weidete sich an unserem Anblick. Keiner
antwortete. Anna lächelte auch ihn an, das brachte ihn
zum Schweigen. Sogar er musste sein hämisches
Grinsen einstellen.
Ich wandte mich an Alexej: "Kannst du bitte
übersetzen?"
Er nickte und duckte sich dabei, als wollte ich ihm eine
runterhauen. Ich sagte zu Anna, dass ich ebenfalls mit
Alexej befreundet sei. Alexej übersetzte. Anna schien
nicht beunruhigt zu sein. Vielmehr meinte sie, dass es
schön sei, sich hier zu treffen und dass sie gerne alle
Freunde von Alexej kennen lernen würde. Alexej ging
zur Stereoanlage und suchte in seinen Musikkassetten
herum. Scheinbar war er der Ansicht, dass ich mich
lange genug mit Anna unterhalten hatte. Anna, die
merkte, dass ich noch nicht fertig war, bat ihn, uns
noch einmal zuzuhören. Ihr Russisch klang wie eine
sprudelnde Konsonantenquelle, die Laute explodierten
von sanften Vokalen umspielt aus ihren vollen Lippen.
Alexejs Russisch klang dagegen abgehackt und
mathematisch. Es klang nach den Endungstabellen
und Fürwörterreihen, die mich im Sprachkurs
verzweifeln ließen. Alexej kam wieder zu uns herüber
und forderte mich ungeduldig auf, weiterzusprechen.
Auch Insa wartete interessiert.
Ich holte Luft: "Ich habe mit Alexej geschlafen, auch
schon bevor er bei dir in Sibirien war."
Alexejs Miene verfinsterte sich: "Was soll das?"
"Ich möchte nur, dass sie die Wahrheit über uns
erfährt."
"Ich glaube, sie weiß über uns Bescheid."
"Vielleicht weiß sie es nicht so richtig. Denn warum ist
sie wohl hergekommen?"
"Sie nimmt an einem Studentenaustausch teil. Hast du
den Aushang im Institut nicht gesehen?"
"Sie ist wegen dir gekommen."
"Ich glaube, du gehst besser nach Hause, wir sprechen
ein andermal darüber."
Anna, die über die Heftigkeit unseres Wortwechsels
erschrocken war, wollte von Alexej wissen, was los
war. Er zuckte hilflos mit den Schultern. Ich deutete
abwechselnd auf ihn und mich und sagte "Sex". Anna
wurde rot. Im selben Moment kam Holger ins Zimmer
und sagte: "Die WAA wird nicht gebaut." Insa stürmte
hinaus und rannte in sein Zimmer, in dem der
Fernsehapparat lief. Sie stieß einen gellenden Schrei
aus.
Der Bau der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf
wurde eingestellt. Der Baustopp erging, nicht weil wir
dagegen demonstriert hatten, sondern obwohl wir
dagegen waren. Insa tanzte kreischend um den
Apparat, vor dem Alexej wild gestikulierte und Anna
die Archivbilder erklärte. Sie mussten in La Hague
aufgenommen worden sein, zeigten sie doch eine
Maschine, die die wiederaufbereiteten Brennstäbe in
Tonnen verlud. Holger machte eine Sektflasche auf
und ich ging nach Hause, ohne mich zu verabschieden.
Ich hatte die Nase voll von mir selbst, von Anna und
natürlich immer und immer wieder von Alexej, von
meinem Leben ohne Halt und regelmäßiges Essen. Ich
besorgte mir eine Flasche Campari im Bahnhofskiosk.
Ich
wollte
vergessen.
Als
ich
auf
dem
Bahnhofsvorplatz stand, kam Sturm auf. Der Wind
peitschte meine Haare und klatschte mir den Regen ins
Gesicht. Ich rannte, damit der Regen noch heftiger
schlug.
Die
Wohnung
war
kalt
und
immer
noch
unaufgeräumt, ich hatte keine Lust zu heizen.
Nachdem ich auf einem harten Kanten Brot herumgekaut hatte, öffnete ich eine Dose Thunfisch und
schnitt mir dabei in die Hand. Der Fisch fiel beim
Essen vom Brot. Das Blut auf meiner Hand roch
danach. Ich bereitete mir eine Wärmflasche und legte
mich ins Bett. Ich konnte nicht schlafen. Ich musste
mit ihm sprechen. So zog ich meine Lederjacke an. In
Evas Zimmer stand noch ein Sparschwein aus
Porzellan. Nachdem ich eine Weile versucht hatte, das
Geld aus dem Schlitz zu holen, schmiss ich es auf den
Fußboden. Beim dritten Mal zerbrach es endlich.
Vorsichtig griff ich nach ein paar Zehnpfennigstücken.
Ich musste ihn anrufen. Auf dem Weg zur Telefonzelle
schwankte ich. In der Telefonzelle stank es vertraut
nach Urin.
Alexejs Stimme klang abweisend: "Franka, was willst
du?"
"Alexej!"
Er musste mein Schluchzen hören, antwortete
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