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Die niederländische Jungfrau - Roman

Die niederländische Jungfrau - Roman

Titel: Die niederländische Jungfrau - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ihm. Er sahsich um und versetzte dem Tier einen Tritt. Gerade als ich mich zu fragen begann, ob es in diesem Haus auch Dinge gab, die normal liefen, gehorsam waren oder zumindest freundlich, klopfte es an der Tür. Als ich öffnete, erschraken wir beide, die Frau auf dem Flur und ich. Nein, sie war es nicht, sie hatte eine breitere Nase als meine Tante und blaue Augen. Ansonsten wäre ich ihr sofort in die Arme gefallen, hätte sie nicht ein vollbeladenes Tablett getragen. Es war mir egal, als was sie sich entpuppen würde, für den Moment hatte ich beschlossen, daß sie nett war.
    »Tag, Mädchen, ich bin Leni.«
    Sie schloß die Tür mit einem Tritt und setzte das Tablett auf dem Tisch ab. Ich sah Wurstbrötchen und Knödel mit Puderzucker, traute mich aber nicht zuzulangen. Leni nahm einen Stuhl und setzte sich vors Fenster, die Hände auf die großen Knie gestützt. Sie seufzte tief.
    »Da hockst du jetzt, auf den Dachboden gesteckt wie alter Plunder.«
    »Es ist ein schönes Zimmer.«
    »I wo, hier stinkt es nach Taubenmist. Das ist ein sehr ungesunder Geruch.«
    »Riech ich nicht.«
    »Dann iß mal, bevor du’s doch riechst.«
    Als sie lachte, wackelte alles mit – Wangen, Brüste, Bauch, Unterarme in aufgekrempelten Ärmeln. Wahrscheinlich hätte sogar ihr Hintern gelacht, wenn sie nicht auf ihm gesessen hätte. Ich machte mich über das Essen her.
    »Der Chef ist ein komischer Kauz«, sagte sie unvermittelt. »Sieh mich nicht so an, das hast du doch bestimmt schon gemerkt. Als er Raeren gekauft hat, saßen wir schon sechs Saisons ohne Arbeit. Wir haben immer bei Lambertzgearbeitet, der Keksfabrik. Danach hofften wir, Philips würde hier eine Fabrik aufmachen. Entsprechende Gerüchte gab es schon seit über fünf Jahren. Heinz fand, wir sollten nicht länger warten. Seitdem sind wir bei von Bötticher in Stellung. Ein komischer Kauz.«
    Sie erhob sich und begann zu flüstern: »Haben Sie seine Wange gesehen? Er ist überall so zugerichtet. Es sind zwei Wunden, eine aus dem Krieg, die andere von diesen Sachen, mit denen er sich beschäftigt. Sie müssen mal richtig hinschauen, das sieht aus wie mit links zusammengenäht. Und dann sein Bein!«
    Ich platzte los, sie zog eine Miene, als hätte ihr jemand ein falsches Gericht serviert. »Das ist doch kein Anblick, das müssen Sie doch zugeben.«
    »Ich habe einen Brief für ihn, von meinem Vater. Können Sie ihm den geben?«
    Sie griff stirnrunzelnd nach dem Umschlag. »Ein großer. Was steht da drin?«
    Ich zuckte mit den Achseln. Sie legte den Umschlag auf den Tisch zurück.
    »Warten Sie damit noch ein bißchen. Der andere Brief von Ihrem Vater, vor einer Weile, der hat ihn völlig durcheinandergebracht. Er war nicht mehr er selbst. Mal lief er triumphierend durchs Haus, mal wurde er wütend wegen nichts. Auch das Telegramm danach, in dem Ihr Kommen angekündigt wurde, hat ihn aus dem Gleis gebracht. Warum, will ich gar nicht wissen. Seine schlechte Laune ist seine Sache, auch wenn Heinzi und ich alles abkriegen. Wenn der Unterricht angenehm verlaufen soll, in normalem Einvernehmen, dann würde ich den hier noch ein Weilchen bei mir behalten.«
    Bei den letzten Sätzen hatte ihre Stimme die Tonlage gewechselt, von hoch zu tief. Mir ging auf, daß meine Vertrautheit mit dieser Frau nicht nur von ihrem Äußeren herrührte. Sie sprach diesen empörten Frankendialekt des Grenzgebiets. Falls mir auf Raeren etwas zustoßen sollte, würde ich mich an sie klammern wie ein verirrtes Kind. Gemeinsam starrten wir auf meines Vaters Klaue, die achtlose Ärztehandschrift, mit der Vermutungen auf Überweisungen gekritzelt wurden, als würde ein Urteil dann als weniger hart empfunden.

3
    Mein Vater machte gern Notizen. Er trug Bleistifte bei sich, um die Tage mit Randbemerkungen zu versehen. Auf der Bäckerrechnung: Nur Primzahlzwillinge?! Auf der Zeitung: argumentum ad misericordiam . Auf dem Toilettenspülkasten: Zur Hälfte leeren reicht . »Wart mal«, sagte er oft. Dann federte er hoch und bekam gute Laune. Viele der Entdeckungen meines Vaters wurden mit »Wart mal« eingeläutet. Dann begann er mit der Reparatur unseres Radios und endete bei der Neuerfindung des Otophons. Oder er fand auf dem Sint-Pietersberg ein neues Moostierchenfossil, das sich bei näherer Betrachtung als die Hälfte eines altbekannten entpuppte. Als Anhänger der nicht-monotonen Logik korrigierte er vor allem sich selbst. Unser Haus füllte sich mit Gekritzel. Bei der Toilette wurde eine

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