Die Schattenfrau
musste aufs Klo, wagte aber nicht, etwas zu sagen, also nahm sie sich zusammen, und davon wurde ihr auf dem Stuhl am Fenster noch kälter.
Durch den Spalt neben dem Rollo konnte sie sehen, dass genau vor dem Fenster ein Wald war. Die Bäume wiegten sich im Wind. Drinnen roch es übel. Es juckte unter ihrem Hemd. Jetzt musste Mama bald bei ihr sein.
Der Onkel sagte etwas zu einem anderen Onkel, der ins Haus gekommen war. Sie kroch näher an die Wand. Sie hatte Hunger, aber vor allem Angst. Warum waren sie nicht nach Hause gefahren, nachdem das Schreckliche passiert war? Einer der Onkel hatte am Steuer gesessen, und sie waren zwischen den Häusern hin und her gefahren, und dann war sie von einem anderen Onkel getragen worden, als er aus dem einen Auto in ein anderes geklettert und dann weggefahren war. Sie hatte sich umgeschaut, sobald sie es gewagt hatte, aber Mama war nicht da gewesen.
»Mama!«, hatte sie geschrien, und der Onkel hatte gesagt, dass die Mama bald kommen würde. Sie hatte noch einmal geschrien, und da war der Onkel furchtbar böse geworden und hatte sie hart an der Schulter gepackt. Er war nicht nett.
Sie hatte geweint und sich die Schulter gehalten, neben dem Onkel auf dem Rücksitz. Dann war sie eingeschlafen und erst aufgewacht, als sie angehalten hatten und der Onkel sie ins Haus - oder was das war - getragen hatte.
Das sind keine Onkel, dachte sie jetzt. Das sind alte Männer, die laut schreien und übel riechen. Sie konnte die Alten hören und auch dann verstehen, wenn die zwei nicht so laut sprachen.
»Was machen wir mit der Kleinen?«, fragte einer der beiden. Sie konnte nicht hören, was der andere sagte. Er murmelte, als wollte er nicht, dass sie ihn hörte.
»Das müssen wir heute Nacht entscheiden«, sagte wieder der eine Alte, der lauter sprach als der andere.
»Schrei nicht so verdammt laut«, sagte der andere. Sie fand es komisch, was er da sagte. Entweder schrie man, und dann war es immer laut, oder aber man redete normal. »Wir gehen in die Küche.« »Ist die Kleine da?« »Was?« »Die Kleine?«
»Was meinst denn du? Wo sollte sie wohl sonst sein?«
Sie saß noch immer am Fenster. Die alten Männer waren weg. Sie hörte eine Eule schreien und zog ein wenig am Rollo, um besser sehen zu können. Vor dem Fenster wuchs ein Busch. Sie sah ein Auto. Es war jetzt heller über dem Wald. Sie schaute ins Zimmer und ließ die Hand am Rollo. Vom Fenster fiel ein Lichtstrahl ins Zimmer. Wie von einer schwachen Taschenlampe, dachte sie.
Es sah aus wie ein Strich aus Licht, den jemand auf den Boden gemalt hatte, und mitten auf dem Strich lag etwas. Wenn sie das Rollo losließ, verschwand das Licht vom Boden, und sie sah nicht, was da lag. Wenn sie es wieder anfasste, kam der Strich zurück, und sie sah, dass etwas auf dem Boden lag, das wie ein Stück Papier aussah.
Sie ließ wieder los, rutschte vom Stuhl und ging ganz leise.
Nun war es einfacher als vorher, etwas zu erkennen.
Sie hörte die alten Männer reden. Weit weg. Sie kniete sich hin und tastete den Boden ab und nahm das, was da lag, in die Hand. Es war wirklich ein Stück Papier, und sie steckte es in die Geheimtasche ihrer Hose. Sie hatte unbedingt genau diese Hose anziehen wollen, die mit der geheimen Tasche.
Sie ging zum Stuhl an der Wand zurück und kletterte wieder hinauf.
Ein Geheimnis in ihrer Tasche. So etwas kann lustig sein und spannend. Nicht jetzt, dachte sie. Ich habe genauso viel Angst wie vorhin. Was ist, wenn der Mann, der den Zettel verloren hat, danach sucht und darauf kommt, dass ich ihn genommen habe? Ich lege ihn wieder hin, dachte sie, aber da kamen die Männer ins Zimmer, und beide schauten sie an. Dann kamen die zwei näher, und einer von ihnen hob sie hoch. Der andere blickte aus dem Fenster.
Sie fuhren vom Haus weg, und sie versuchte, wach zu bleiben, aber die Augen fielen ihr zu. Als sie erwachte, war es hell geworden. Sie dachte nach. Dann fragte sie nach ihrer Mama.
»Wir werden deine Mama finden«, sagte der Mann, der vorne saß und das Auto fuhr.
Warum sagte er das? Wussten sie nicht, wo ihre Mama war? Wusste Mama nicht, dass sie bei den alten Männern war?
Sie fing an zu weinen, aber der Mann neben ihr blickte sie nicht an. Sie hatte niemanden mehr, denn ihre Puppe hatte sie fallen lassen, als sie zu dem anderen Auto gerannt waren. Wo meine Puppe wohl jetzt ist?, dachte sie.
5
Sie gingen langsam um den Kungstorget-Platz. Jöran Qvist, der Zeuge, Halders und Bergenhem. Es war elf Uhr
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