Die Seherin von Knossos
Zerstörer. Dann atmete er Feuer, brachte Gold zum Schmelzen, Quellen und Flüsse zum Brodeln und ließ die Berge flüssiges Gestein bluten.
Die Frische der regendurchtränkten Felder rief Sibylla in die Gegenwart zurück, und sie lächelte voller Vorfreude auf das Jahr: das neunzehnte, das Megaloshana’a.
Die Schreckensvisionen von vorhin waren verblasst. Sibylla wollte nicht glauben, dass Kela und Apis ihr eigenes Volk auslöschen würden! Bestimmt verlangte die Große Göttin nicht wirklich von ihnen, ihre Heimat zu verlassen. Gab es vielleicht eine zweite Bedeutung? Die sich durch diese Träume eröffne-te?
Inzwischen konnte sie wieder klarer denken, und ihre Haut fühlte sich vertrauter an. Solange sie als Orakel diente, hauste Kelas Geist in ihrem Körper, weissagend und Fragen beantwortend. Sibyllas Verstand blieb dann nur zu einem kleinen Teil als Anker für ihre herumirrende Psyche zurück. In langen Jahren hatte sie gelernt, niemals die silberne Öse auszulassen, die ihren reisenden Geist mit dem von Kela verband, niemals allzu weit fortzuwandern. Andernfalls könnte sie sich endgültig verirren und dazu verdammt sein, als Skia durch die Welt zu ziehen.
Doch Sibylla merkte nur zu gut, dass ein Teil ihres Selbsts fehlte. Die silberne Öse hatte sich gelöst, und sie fürchtete, dass ein Teil ihrer Psyche noch auf der Wanderung war. Statt ihrer selbst war etwas anderes zurückgekehrt. Jemand anderes.
Ich! sagte die Stimme.
»Herrin?«, rief jemand, und Sibylla sah dankbar auf. Die junge zukünftige Braut kam auf sie zu. Sibylla nahm das angebotene Korn aus der ausgestreckten Hand der Nymphe.
»Du hast gestern von Zerstörung gesprochen«, sagte das Mädchen.
Sibylla drehte den Kopf zur Seite.
»Wird mein Gemahl überleben?«
Die Frage war so bescheiden, dass Tränen in Sibyllas Augen traten. Die Nymphe fragte nicht nach ihrem eigenen Schicksal, sondern nach dem ihres Geliebten. Deine Visionen nehmen sich aus wie Bilder in einer Sonderausgabe von National Geographie, sagte eine Stimme in ihr. Sibylla wurde steif, denn die Stimme ließ sie frösteln. Der Eindringling sprach zu ihr. Nein, es musste Kela sein.
»Ich habe ihn in meiner Vision nicht gesehen«, antwortete Sibylla. Der nachtschwarze Blick des Mädchens versuchte ihren aufzufangen und fiel dann zu Boden. Sibylla wusste, dass sie gelogen hatte, doch welchen Sinn sollte es haben, einer Braut zu erzählen, dass sie niemals ihr erstgeborenes Kind sehen würde?
Dann rate ihr eben, auf die andere Seite der Insel zu gehen, sagte die Stimme. Sie hat doch bestimmt Verwandte dort. Es kann nicht schaden, eine Zeit lang fortzugehen. Vielleicht rettest du ihr damit das Leben.
Bitte, lass das Kela sein, die zu ihr sprach, wie sie es nie zuvor getan hatte, betete Sibylla.
Wohl kaum, widersprach die Stimme schroff. Mach schon, gib der Kleinen eine Chance.
Wenn ich ihr diesen Rat gebe, wenn ich sie fortschicke, ent-gegnete Sibylla, greife ich dann nicht in das ein, was uns vorbestimmt ist? Wenn sie ihr Heim und ihre Felder verliert, was nützt es ihr dann, am Leben zu sein?
In ihrem Inneren spürte Sibylla ein schweres, mutloses Seufzen. Wir können nur unser Bestes versuchen. Was sich nicht ändern lässt, lässt sich eben nicht ändern ... Sibylla spürte, wie sich die Stimme, verletzt und verletzend, zurückzog.
»Du hast Verwandte in Phaistos, Nymphe?«
»Ja, Herrin.«
»Geht nach eurer Hochzeit zu ihnen.«
Die Nymphe sah sie mit großen Augen an. »Nach Phaistos?«
»Es ist der Wunsch der Kela.«
Sibylla ließ den Kopf auf den Stein sinken und lauschte den Schritten der Nymphe, die den Felsenpfad hinunter- und zum Dorf zurückrannte. Das Wesen in ihrem Inneren lächelte.
Der Anfang ist gemacht, Sibylla.
Niemand hatte zugesehen.
Sie waren aus den dunklen Tiefen des Ozeans aufgestiegen, Gipfel, vom Zorn der Erde selbst aufgeworfen. In weitem Bogen zogen sich die Inseln durch das weindunkle Meer, Höhen des Todes, durchsetzt von Wiegen wilder und sanfter Schönheit: Milos, Hydroussa, Tinos, Siros, Myknossos, Delos, Naxos, Paros, Nios, Folegandros und die miteinander verbundenen Inseln Kallistae und Aztlan. Bei einigen war der Zorn bereits verraucht, bevor die Menschheit sich auf ihren Hängen ansiedelte; andere würden noch jahrhundertelang schweigen.
Weil die tektonischen Platten Afrikas und Eurasiens langsamer aufeinander zutrieben, pflanzten sich wie in einem Schaudern Aufwerfungen und Klüfte durch die Erde fort, die Felsen
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