Die Seherin von Knossos
mit neunzehn, hasste er sie noch mehr. Ileana war noch nicht so alt und verlebt, dass ihr nicht klar gewesen wäre, wann Gefahr drohte. Phoebus würde sie liebend gern tot sehen, doch Ileana hatte keineswegs die Absicht, den Thron der Himmelskönigin freizumachen.
Es bestand kein Zweifel daran, dass sie den Wettlauf gewinnen würde. Dennoch würde Phoebus triumphieren, falls es ihr nicht gelingen sollte, innerhalb der vorgesehenen Zeit schwanger zu werden. Sie weigerte sich, an die Strafe zu denken, falls sie verlor: das Labyrinth.
Vom Gang her war ein durchdringender Schrei zu hören, doch Ileana schminkte sich ungerührt zu Ende. Ein Pfau kam hereinspaziert, schreiend und mit geschlossenem Schwanz. Ileana drehte sich auf ihrem Hocker um und schnippte einem Leibeigenen, ihr ein paar Körner zu reichen. »Komm her, mein Schöner«, sagte sie und warf die Körner auf den bemalten Boden. »Zeig mir, wie schön du bist.« Der Pfau pickte die Körner auf und schrie nach mehr. »Nicht, bevor du deine Farben gezeigt hast«, ermahnte Ileana das Tier.
Gehorsam stolzierte der Pfau vor und plusterte sich auf, das herrlich farbenprächtige Schwanzgefieder weit geöffnet. »Die zwei und die da«, wies Ileana den Leibeigenen an. Der Pfau schrie erneut und klappte den Fächer seines Schwanzes wieder zu, doch der Leibeigene war schneller und hielt bereits drei lange Federn, jede mit großem Auge, in der Hand. Drei, die
Ehrenzahl der Großen Göttin. Mit einem triumphierenden Lachen wandte sich Ileana wieder ihrem Wasserspiegel zu. Geschickt schob der Junge die Federn in die Krone ihres korngoldenen Haares.
»Unter den Federn wirken deine Augen so tief wie die The-rossee«, sagte der Junge.
Ihr Spiegelbild bewundernd, lehnte sich Ileana zurück, bis ihr Kopf an seiner Brust lag. Sie labte sich an dem begehrlichen Blick, der sich im Wasser spiegelte, dann winkte sie ihn fort.
Gehorsam verbeugte er sich und trat zurück. Sie schnippte mit den Fingern, und zwei gut aussehende Männer, langglied-rig und mit schmaler Taille, rissen die Türen ihres Gemaches auf. Mit einem letzten prüfenden Ruck an dem siebenlagigen Rock, der ihr als Verkörperung der Muttergöttin zustand, näherte Ileana sich ihrem Tragsessel und ließ sich hoheitsvoll darin nieder. Unaufgefordert wurde ihr ein Rhyton gereicht -ein schlanker Kelch aus Perlmutt und Gold, der unten zugespitzt war, sodass er in einem eleganten Metallgestell abgestellt oder aufrecht in den Boden gesteckt werden konnte. Sie schnippte erneut mit den Fingern, und die Männer gingen vorsichtig los, darauf bedacht, nicht auf einen umherstreifenden Pfau zu treten.
Die Mauern des Palastes mit ihren lebensgroßen Gemälden von Priesterinnen und Prinzen beim Gebet und während der Prozession zogen in einem Schleier von Gold, Purpur, Schwarz und Weiß vorbei. Der Lärm der Feier - Musik, das Klappern von Tongeschirr und Alabaster und tiefes, trällerndes Gelächter - umschmeichelte Ileanas Ohr, sobald sie die breite Treppe zum Megaron der Königin hinabgetragen wurde.
Behutsam stellten die Leibwächter den Tragsessel ab und halfen ihr heraus. Die Pfaue wurden in den weiten Saal gescheucht, Ileana setzte ein Lächeln auf, und alles verstummte. Unter den Klängen einer einsamen Flöte schritt sie in den Saal. Die Gäste, ihre Untertanen, erwarteten sie stehend mit gesenktem Kopf, die Arme devot erhoben.
»Kela-Ileana, Himmelskönigin, Muttergöttin der Ernte, Herrin Atzlans«, sang eine hohe Stimme.
Sie nahm ihren Platz auf dem Podest am Rande der Festgesellschaft ein; mit einem Fingerschnippen erweckte sie das Fest zu neuem Leben. Ihr Rhyton wurde neu gefüllt, doch bevor sie ihn in den Boden stecken konnte, sprach eine Männerstimme sie an: »Schönster Himmel, darf ich?«
Langsam hob sie den Blick. Bei Apis’ Stärke, dieser Mann war wunderschön! Sein Lächeln ließ erkennen, dass ihm das wohl bewusst war. Vergrätzt durch seine Arroganz, rammte Ileana das Ende des Rhytons in den Boden. Sein Erschrecken war ihm anzusehen. War sie die erste, die ihn abblitzen ließ?
Ohne ihn auch nur anzusehen, rief sie nach ihrem Stiefsohn: »Arus! Sag, wer ist der Mann, der glaubt, er könne sich allein kraft seines Lächelns dem Himmel nähern?« Aus dem Augenwinkel sah sie die Wangen des Jungen rot werden.
Arus, mit altmodisch kurzem Haar, dafür aber einer höchst eindrucksvollen Nase im Gesicht, beugte sich vor. »Es ist der jüngste troizenische Prinz. Nicht Manns genug für eine Aztlan-tin.«
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