Die Sonnenposition (German Edition)
er die Maus hielt; die Maus, der er alsbald, so fürchtete ich, mit einer raschen geübten Bewegung das Genick brechen würde.
Ich hätte die Maus gern gestreichelt, glaubte aber zu wissen, daß ich das nicht durfte. Ich hätte gern ihr noch kaum vorhandenes, eben erst sprießendes Körperhaar berührt, meinen Finger in dieses diffuse Licht gehalten, die flaumige Haut der Maus auf ihre irdische Verfaßtheit geprüft, dabei vielleicht auch die Innenfläche von Odilos Hand gestreift, zu einem einfachen Vergleich der Wärme – ich wußte, daß Odilo viel Wert auf seine gepflegten Finger legte, sich regelmäßig eincremte, was ich niemals tat, und was um so alberner wirkte, als seine Hände dunkel behaart waren – aber die Maus würde die weichen Polster seiner Hand an Zartheit übertreffen, ich streckte im Dunkeln schon den Arm aus, aber dann ließ ich es, dachte an Bazillen, Übertragungswege – doch ich atmete ja, atmete Keime aus, die mit einem Hauch durchaus auf den mäuslichenSchnurrhaaren landen, sie infizieren konnten – die Maus besaß keinerlei Abwehrkräfte, sie war ohnehin todgeweiht – ich wagte mich nochmals vor, aber Odilo machte eine unwillkürliche Bewegung, wandte sich eifersüchtig ab, geriet zwischen mich und die Maus, und ich rammte ihn versehentlich am Oberarm. Er verlor das Gleichgewicht, suchte Halt, wollte sich an etwas festhalten und schloß die Faust.
Auch ich hatte an Standfestigkeit eingebüßt, war zurückgeschreckt und mit der Hüfte gegen den Lichtschalter geprallt. Die Röhre flammte auf, und Odilo ließ die zerdrückte Maus wie beiläufig in den Käfig zurückgleiten.
Die Maus wäre ohnehin gestreckt worden – was besagte, daß man Kopf und Rumpf auseinanderzog, bis es knackte – aber dennoch setzte sich in mir ein Gefühl des Unbehagens fest: Als hätte er sie nur getötet, damit ich sie nicht berührte.
Ich blieb nicht mehr lange. Wir tranken noch einen Automatenkaffee in der Lobby, dann verabschiedete ich mich rasch.
27 Doppelsonnen
Den Silvesterabend verbrachte ich im Vorgarten seines Elternhauses. Die Laterne auf dem Ziegelpfosten am Gartentor brannte, die Mauerkrone war dünn mit Schnee bedeckt. Seine Mutter hatte sich unwohl gefühlt und sich früh hingelegt. Odilo mochte das vorausgesehen haben. Er rief mich ein paar Tage vorher an, ob ich den Jahreswechsel mit ihm feiern wolle, er würde sich über meine Gesellschaft freuen.
Ich hatte andere Pläne gehabt, aber ich sagte alles ab, packte die Feuerwerkskörper, die ich schon besorgt hatte, in den Kofferraum und fuhr gegen Abend zu ihm.
Ich trug eine Pelzmütze mit Ohrenklappen und einen Wollmantel von meinem Vater, ich errichtete an der Gartenmauer eine Abschußrampe, und noch bevor ich klingelte, testete ich die erste Rakete.
Er riß voller Ingrimm die Haustür auf, dann sah er, daß ich es war. Ich lächelte breit unter meiner Mütze, warf die Feuerwerkspackungen auf den Teppich im Windfang und achtete peinlich darauf, daß sie nicht mit dem Schneematsch in Berührung kamen, den ich unter den Schuhen hereintrug.
Ein steifer Abend bei Champagner und klassischer Musik.
Ich hätte andere Aktivitäten vorgezogen. Man konnte mit Odilo jederzeit tiefschürfende Gespräche führen. Aber er war nicht gerade ein Freund, mit dem man Spaß hatte.
Wir saßen vor unseren Gläsern und beobachteten, wie die Bläschen hochstiegen. Die Musik lief gedämpft, damit seine Mutter nicht aufwachte.
Zu meiner Überraschung bekundete er intensives Interesseam Verlauf meines Weihnachtsfestes. Bis dahin hatte er meinen familiären Hintergrund kaum zur Kenntnis genommen. Jetzt wollte er genau wissen, was wir getan hatten. Was gegessen. Wie wir einander beschenkten. Er fragte auch nach meiner Schwester. Ich erklärte, daß sie die Weihnachtstage nicht bei den Eltern verbracht hatte. Ich ahnte nichts.
Alle Weihnachtsabende übereinandergelegt ergeben fast dasselbe Bild. Man sieht im Zeitraffer, wie ich wachse, wie sich die Kleidermode ändert, man sieht die unterschiedliche Gestalt des Tannenbaums, der üppige Zweige ausbreitet und dann wieder schütter wird, sieht die armseligen stumpfen Nadeln mancher Jahre und die prächtig glänzenden anderer. Alle Weihnachtsabende übereinandergelegt ergeben ein Daumenkino, das ein leise bewegtes Motiv zeigt. Systematisch fährt die Fichte ihre Zweige ein und aus, blinken die Kugeln erst rot, dann gold, dann bunt, dann wieder rot, und für einen Moment brennen die Kerzen reglos elektrisch, während
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