Die Wächter von Jerusalem
sodass der leichte Wind die Vorhänge aus feiner, fast durchsichtiger Seide bauschte und ein Duft von Rosenblüten und reifen Pfirsichen in das Zimmer wehte.
»Hier ist Ihre Terrasse. Wenn Sie wünschen, können Sie Ihre Mahlzeiten draußen einnehmen. Die Speisekarte finden Sie in der oberen Schublade des Sekretärs. Allerdings möchten wir die Karte nur als Inspiration verstanden wissen. Ihre Wünsche nehmen wir selbstverständlich gern entgegen. Sollten Sie noch etwas benötigen, Fragen zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt haben oder eine Reservierung für ein Restaurant oder Theater vornehmen wollen, wählen Sie bitte die Eins. Sie sind dann mit der Rezeption verbunden, und wir werden uns um Ihre Wünsche kümmern. Bis einundzwanzig Uhr stehe ich Ihnen zur Verfügung, danach löst mich mein Kollege Simon ab. Wenn Sie nach draußen telefonieren möchten, wählen Sie bitte die Null vorneweg.« Sharon blickte sich im Zimmer um, als wollte sie sich vergewissern, dass sie nichts vergessen hatte.
Auch Anne ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Dabei fiel ihr auf, dass es weder einen Fernseher noch eine Hi-Fi-Anlage gab. Sie entdeckte nicht einmal ein Radio. Abgesehen vom elektrischen Licht, einem Funkwecker auf dem Nachttisch und dem wirklich luxuriösen Badezimmer schien man hier den Segnungen der modernen Technik eher kritisch gegenüberzustehen. Selbst das Telefon war ein altmodisches Modell mit einer Wählscheibe, obwohl Anne die Schönheit des cremefarbenen Apparates mit dem großen geschwungenen Hörer nicht leugnen konnte.
»Haben Sie noch Fragen, Frau Niemeyer?«
»Nein, danke.«
Sharon nickte. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend und einen angenehmen Aufenthalt.« Sie lächelte und schloss sorgfältig die Zimmertür hinter sich.
Anne legte ihre Strickjacke und Umhängetasche auf das Bett und trat auf die Terrasse hinaus. Wie sie erwartete hatte, war das Grundstück nicht besonders groß. Ringsumher ragten die Fassaden und Mauern der Nachbarhäuser empor. Und doch war der kaum fünfzig Quadratmeter große Innenhof so kunstvoll angelegt, als wäre für diese Anlage ein Meister der Gartenarchitektur engagiert worden. Ein schmaler, mit unregelmäßigen Marmorplatten ausgelegter Weg führte von ihrer Terrasse vorbei an blühenden Hibiskus- und Rosensträuchern zu einem kleinen Wasserbecken mit rosafarbenen Lotosblüten und einem Wasserspiel in der Mitte, das fröhlich vor sich hin plätscherte. Eine weiße Marmorbank lud zum Verweilen unter den schattenspendenden Zweigen eines Pfirsichbaumes ein. Der Wind strich behutsam durch die Blätter eines Feigenbaumes, an dem dicht nebeneinander die leuchtend auberginenfarbenen Früchte hingen, als ob sie nur darauf warten würden, von ihr gepflückt zu werden. Anne atmete den süßen Duft der Feigen und Pfirsiche ein. Bienen summten, Vögel zwitscherten und genossen die feinen Wassertropfen, die der Wind an den Rand des Wasserbeckens wehte. Nur ganz entfernt drangen vereinzelt Motorengeräusche und Hupen in diese Idylle – eine vage Erinnerung daran, dass sie sich hier mitten in einer quirligen Großstadt befand.
»Hier kannst du es ein paar Tage aushalten«, sagte Anne zu sich selbst und ließ sich auf einem zierlichen Eisenstuhl, der neben einem kleinen Tisch stand, nieder, um noch die letzten Sonnenstrahlen des Tages zu genießen.
Jemand klopfte an die Zimmertür.
»Herein!«, rief Anne und fragte sich, ob Sharon noch etwas vergessen hatte. Ein Junge trat ein, und vor sich ausgestreckt wie eine kostbare Trophäe trug er eine mit einer großen Schleife verzierte Schachtel.
»Das ist für Sie«, sagte der Junge auf Englisch. »Wir sollen Ihnen dieses Geschenk nach Ihrer Ankunft bringen.«
»Ist es ein Geschenk von Herrn Mecidea?«
Der Junge zuckte mit den Schultern und wurde rot, als wäre es ihm peinlich, solche Fragen nicht beantworten zu können.
»Ich weiß es nicht. Sharon sagte nur, dass ich es Ihnen bringen soll.«
»Ist schon gut«, erwiderte Anne, nahm ihm das Paket ab und holte aus ihrem Portemonnaie einen Schein, den sie dem Jungen in die geöffnete Hand drückte. »Da außer Herr Mecidea niemand weiß, dass ich hier bin, ist es wohl nicht schwer zu erraten, wem ich dieses Geschenk zu verdanken habe.«
Der Junge machte eine angedeutete Verbeugung. Anne schloss die Tür hinter ihm und lehnte ihre Stirn gegen das Holz. Für ein paar Augenblicke hatte sie doch tatsächlich vergessen, dass sie nicht zu ihrem Vergnügen hier war. Für
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