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Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
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erhält; aber von der seitdem verflossenen Zelt hat er doch keine Rückerinnerung: der Wahnsinnige dagegen trägt in seiner Vernunft auch immer eine Vergangenheit in abstracto herum, aber eine falsche, die nur für ihn existirt und dies entweder allezeit, oder auch nur eben jetzt: der Einfluß dieser falschen Vergangenheit verhindert nun auch den Gebrauch der richtig erkannten Gegenwart, den doch das Thier macht. Daß heftiges geistiges Leiden, unerwartete entsetzliche Begebenheiten häufig Wahnsinn veranlassen, erkläre ich mir folgendermaaßen. Jedes solches Leiden ist immer als wirkliche Begebenheit auf die Gegenwart beschränkt, also nur vorübergehend und insofern noch immer nicht übermäßig schwer: überschwänglich groß wird es erst, sofern es bleibender Schmerz ist; aber als solcher ist es wieder allein ein Gedanke und liegt daher im Gedächtniß : wenn nun ein solcher Kummer, ein solches schmerzliches Wissen, oder Andenken, so quaalvoll ist, daß es schlechterdings unerträglich fällt, und das Individuum ihm unterliegen würde, – dann greift die dermaaßen geängstigte Natur zum Wahnsinn als zum letzten Rettungsmittel des Lebens: der so sehr gepeinigte Geist zerreißt nun gleichsam den Faden seines Gedächtnisses, füllt die Lücken mit Fiktionen aus und flüchtet so sich von dem seine Kräfte übersteigenden geistigen Schmerz zum Wahnsinn – wie man ein vom Brande ergriffenes Glied abnimmt und es durch ein hölzernes ersetzt. – Als Beispiel betrachte man den rasenden Ajax, den König Lear und die Ophelia: denn die Geschöpfe des ächten Genius, auf welche allein man sich hier, als allgemein bekannt, berufen kann, sind wirklichen Personen an Wahrheit gleich zu setzen: übrigens zeigt auch die häufige wirkliche Erfahrung hier durchaus das Selbe. Ein schwaches Analogen jener Art des Ueberganges vom Schmerz zum Wahnsinn ist dieses, daß wir Alle oft ein peinigendes Andenken, das uns plötzlich einfällt, wie mechanisch, durch irgend eine laute Aeußerung oder eine Bewegung zu verscheuchen, uns selbst davon abzulenken, mit Gewalt uns zu zerstreuen suchen. –
    Sehn wir nun angegebenermaaßen den Wahnsinnigen das einzelne Gegenwärtige, auch manches einzelne Vergangene, richtig erkennen, aber den Zusammenhang, die Relationen verkennen und daher irren und irrereden; so ist eben dieses der Punkt seiner Berührung mit dem genialen Individuo: denn auch dieses, da es die Erkenntniß der Relationen, welches die gemäß dem Satze des Grundes ist, verläßt, um in den Dingen nur ihre Ideen zu sehn und zu suchen, ihr sich anschaulich aussprechendes eigentliches Wesen zu ergreifen, in Hinsicht auf welches ein Ding seine ganze Gattung repräsentirt und daher, wie Goethe sagt, ein Fall für Tausende gilt, – auch der Geniale läßt darüber die Erkenntniß des Zusammenhangs der Dinge aus den Augen: das einzelne Objekt seiner Beschauung, oder die übermäßig lebhaft von ihm aufgefaßte Gegenwart, erscheinen in so hellem Licht, daß gleichsam die übrigen Glieder der Kette, zu der sie gehören, dadurch in Dunkel zurücktreten, und dies giebt eben Phänomene, die mit denen des Wahnsinns eine längst erkannte Aehnlichkeit haben. Was im einzelnen vorhandenen Dinge nur unvollkommen und durch Modifikationen geschwächt daist, steigert die Betrachtungsweise des Genius zur Idee davon, zum Vollkommenen: er sieht daher überall Extreme, und eben dadurch geräth sein Handeln auf Extreme: er weiß das rechte Maaß nicht zu treffen, ihm fehlt die Nüchternheit, und das Resultat ist das besagte. Er erkennt die Ideen vollkommen, aber nicht die Individuen. Daher kann, wie man bemerkt hat, ein Dichter den Menschen tief und gründlich kennen, die Menschen aber sehr schlecht; er ist leicht zu hintergehn und ein Spiel in der Hand des Listigen. 57

    § 37
    Obgleich nun, unserer Darstellung zufolge, der Genius in der Fähigkeit besteht, unabhängig vom Satze des Grundes und daher, statt der einzelnen Dinge, welche ihr Daseyn nur in der Relation haben, die Ideen derselben zu erkennen und diesen gegenüber selbst das Korrelat der Idee, also nicht mehr Individuum, sondern reines Subjekt des Erkennens zu seyn; so muß dennoch diese Fähigkeit, in geringerem und verschiedenem Grade auch allen Menschen einwohnen; da sie sonst eben so wenig fähig wären die Werke der Kunst zu genießen, als sie hervorzubringen, und überhaupt für das Schöne und Erhabene durchaus keine Empfänglichkeit besitzen, ja diese Worte für sie keinen Sinn haben

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