Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
Vom Netzwerk:
den jedesmaligen Fall anwendbar wäre. Hingegen anschauen, die Dinge selbst zu uns reden lassen, neue Verhältnisse derselben auffassen, dann aber dies Alles in Begriffe absetzen und niederlegen, um es sicher zu besitzen: das giebt neue Erkenntnisse. Allein, während Begriffe mit Begriffen zu vergleichen so ziemlich jeder die Fähigkeit hat, ist Begriffe mit Anschauungen zu vergleichen eine Gabe der Auserwählten: sie bedingt, je nach dem Grade ihrer Vollkommenheit, Witz, Urtheilskraft, Scharfsinn, Genie. Bei jener ersten Fähigkeit hingegen kommt nie viel mehr heraus, als etwan vernünftige Betrachtungen. – Der innerste Kern jeder ächten und wirklichen Erkenntniß ist eine Anschauung; auch ist jede neue Wahrheit die Ausbeute aus einer solchen. Alles Urdenken geschieht in Bildern: darum ist die Phantasie ein so nothwendiges Werkzeug desselben, und werden phantasielose Köpfe nie etwas Großes leisten, – es sei denn in der Mathematik. – Hingegen bloß abstrakte Gedanken, die keinen anschaulichen Kern haben, gleichen Wolkengebilden ohne Realität. Selbst Schrift und Rede, sei sie Lehre oder Gedicht, hat zum letzten Zweck, den Leser zu der selben anschaulichen Erkenntniß hinzuleiten, von welcher der Verfasser ausgieng: hat sie den nicht, so ist sie eben schlecht. Eben darum ist Betrachtung und Beobachtung jedes Wirklichen , sobald es irgend etwas dem Beobachter Neues darbietet, belehrender als alles Lesen und Hören. Denn sogar ist, wenn wir auf den Grund gehn, in jedem Wirklichen alle Wahrheit und Weisheit, ja, das letzte Geheimniß der Dinge enthalten, freilich eben nur in concreto , und so wie das Gold im Erze steckt: es kommt darauf an, es herauszuziehn. Aus einem Buche hingegen erhält man, im besten Fall, die Wahrheit doch nur aus zweiter Hand, öfter aber gar nicht.
    Bei den meisten Büchern, von den eigentlich schlechten ganz abgesehn, hat, wenn sie nicht durchaus empirischen Inhalts sind, der Verfasser zwar gedacht , aber nicht geschaut : er hat aus der Reflexion, nicht aus der Intuition geschrieben; und dies eben ist es, was sie mittelmäßig und langweilig macht. Denn was Jener gedacht hat, hätte der Leser, bei einiger Bemühung, allenfalls auch denken können: es sind nämlich eben vernünftige Gedanken, nähere Auseinandersetzungen des im Thema implicite Enthaltenen. Aber dadurch kommt keine wirklich neue Erkenntniß in die Welt: diese wird nur im Augenblick der Anschauung, der unmittelbaren Auffassung einer neuen Seite der Dinge, erzeugt. Wo daher, im Gegentheil, dem Denken eines Autors ein Schauen zum Grunde lag; da ist es, als schriebe er aus einem Lande, wo der Leser nicht auch schon gewesen ist; da ist Alles frisch und neu: denn es ist aus der Urquelle aller Erkenntniß unmittelbar geschöpft. Ich will den hier berührten Unterschied durch ein ganz leichtes und einfaches Beispiel erläutern. Jeder gewöhnliche Schriftsteller wird leicht das tiefsinnige Hinstarren, oder das versteinernde Erstaunen, dadurch schildern, daß er sagt: »Er stand wie eine Bildsäule«; aber Cervantes sagt: »wie eine bekleidete Bildsäule: denn der Wind bewegte seine Kleider.« (Don Quijote, B. 6, Kap. 19.) Solchermaaßen haben alle große Köpfe stets in Gegenwart der Anschauung gedacht und den Blick unverwandt auf sie geheftet, bei ihrem Denken. Man erkennt dies, unter Anderm, daran, daß auch die heterogensten unter ihnen doch im Einzelnen so oft übereinstimmen und wieder zusammentreffen; weil sie eben Alle von der selben Sache reden, die sie sämmtlich vor Augen hatten: die Welt, die anschauliche Wirklichkeit: ja, gewissermaaßen sagen sie sogar alle das Selbe, und die Andern glauben ihnen nie. Man erkennt es ferner an dem Treffenden, Originellen, und der Sache stets genau Angepaßten des Ausdrucks, weil ihn die Anschauung eingegeben hat, an dem Naiven der Aussagen, an der Neuheit der Bilder und dem Schlagenden der Gleichnisse, welches Alles, ohne Ausnahme, die Werke großer Köpfe auszeichnet, denen der Andern hingegen stets abgeht; weshalb diesen nur banale Redensarten und abgenutzte Bilder zu Gebote stehn und sie nie sich erlauben dürfen, naiv zu seyn, bei Strafe ihre Gemeinheit in ihrer traurigen Blöße zu zeigen: statt dessen sind sie preziös. Darum sagte Büffon : le style est l'homme même . Wenn die gewöhnlichen Köpfe dichten, haben sie einige traditionelle, ja konventionelle, also in abstracto überkommene Gesinnungen, Leidenschaften, noble Sentiments u. dgl., die sie den Helden ihrer Dichtungen

Weitere Kostenlose Bücher