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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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einem Bruchteil bewahrheitete, dann war dies der Anfang vom Ende, dann fiel der Stein aus der Mauer und die Mauer mit ihm. Ich kehrte sofort um, sprang in den nächsten Autobus, auf dem ›Victoria Station‹ stand und fuhr zu den
Imperial Airways, um zu fragen, ob für den nächsten Morgen noch ein Flugplatz verfügbar sei. Ich wollte noch einmal meine alte Mutter, meine Familie, meine Heimat sehen. Zufälligerweise bekam ich noch ein Billett, warf rasch ein paar Dinge in den Koffer und flog nach Wien.
    Meine Freunde staunten, daß ich so rasch und so plötzlich wiederkam. Aber wie verlachten sie mich, als ich meine Sorge andeutete; ich sei noch immer der alte ›Jeremias‹, spotteten sie. Ob ich denn nicht wisse, daß die ganze österreichische Bevölkerung jetzt hundertprozentig hinter Schuschnigg stünde? Sie rühmten umständlich die großartigen Demonstrationen der ›Vaterländischen Front‹, während ich doch schon in Salzburg beobachtet hatte, daß die meisten dieser Demonstranten das vorgeschriebene Einheitsabzeichen nur außen auf dem Rockkragen trugen, um ihre Stellung nicht zu gefährden, gleichzeitig aber in München längst zur Vorsicht bei den Nationalsozialisten eingeschrieben waren – ich hatte zuviel Geschichte gelernt und geschrieben, um nicht zu wissen, daß die große Masse immer sofort zu der Seite hinüberrollt, wo die Schwerkraft der momentanen Macht liegt. Ich wußte, daß dieselben Stimmen, die heute ›Heil Schuschnigg‹ riefen, morgen ›Heil Hitler‹ brausen würden. Aber alle in Wien, die ich sprach, zeigten ehrliche Sorglosigkeit. Sie luden sich gegenseitig in Smoking und Frack zu Geselligkeiten (nicht ahnend, daß sie bald die Sträflingstracht der Konzentrationslager tragen würden), sie überliefen die Geschäfte mit Weihnachtseinkäufen für ihre schönen Häuser (nicht ahnend, daß man sie ihnen wenige Monate später nehmen und plündern würde). Und diese ewige Sorglosigkeit des alten Wien, die ich vordem so sehr geliebt und der ich eigentlich mein ganzes Leben nachträume, diese Sorglosigkeit, die der Wiener Nationaldichter Anzengruber einmal in das knappe Axiom gefaßt: »Es kann dir nix g'schehn«,
sie tat mir zum ersten Male weh. Aber vielleicht waren sie im letzten Sinne weiser als ich, all diese Freunde in Wien, weil sie alles erst erlitten, als es wirklich geschah, indes ich das Unheil im voraus schon phantasiehaft erlitt und im Geschehen dann noch ein zweitesmal. Immerhin – ich verstand sie nicht mehr und konnte mich ihnen nicht verständlich machen. Nach dem zweiten Tag warnte ich niemanden mehr. Wozu Menschen verstören, die sich nicht stören lassen wollten?
    Aber man nehme es nicht als nachträgliche Aufschmückung, sondern als lauterste Wahrheit, wenn ich sage: ich habe in jenen letzten zwei Tagen in Wien jede einzelne der vertrauten Straßen, jede Kirche, jeden Garten, jeden alten Winkel der Stadt, in der ich geboren war, mit einem verzweifelten, stummen ›Nie mehr‹ angeblickt. Ich habe meine Mutter umarmt mit diesem geheimen ›Es ist das letztemal‹. Alles in dieser Stadt, in diesem Land habe ich empfunden mit diesem ›Nie wieder!‹, mit dem Bewußtsein, daß es ein Abschied war, der Abschied für immer. An Salzburg, der Stadt, wo das Haus stand, in dem ich zwanzig Jahre gearbeitet, fuhr ich vorbei, ohne auch nur an der Bahnstation auszusteigen. Ich hätte zwar vom Waggonfenster aus mein Haus am Hügel sehen können mit all den Erinnerungen abgelebter Jahre. Aber ich blickte nicht hin. Wozu auch? – ich würde es doch nie wieder bewohnen. Und in dem Augenblick, wo der Zug über die Grenze rollte, wußte ich wie der Urvater Lot der Bibel, daß alles hinter mir Staub und Asche war, zu bitterem Salz erstarrte Vergangenheit.

    Ich meinte, alles Furchtbare vorausgefühlt zu haben, was geschehen könnte, wenn Hitlers Haßtraum sich erfüllen und er Wien, die Stadt, die ihn als jungen Menschen arm und erfolglos von sich gestoßen, als Triumphator besetzen würde. Aber wie zaghaft, wie klein, wie kläglich erwies sich meine, erwies
sich jede menschliche Phantasie gegen die Unmenschlichkeit, die sich entlud an jenem 13. März 1938, dem Tage, da Österreich und damit Europa der nackten Gewalt zur Beute fiel! Jetzt sank die Maske. Da die andern Staaten offen ihre Furcht gezeigt, brauchte sich die Brutalität keinerlei moralische Hemmung mehr aufzuerlegen, sie bediente sich – was galt noch England, was Frankreich, was die Welt? – keiner heuchlerischen

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