Die Welt von Gestern
mitzumachen. Sie starb wenige Monate nach der Besetzung Wiens, und ich kann nicht umhin, eine Episode festzuhalten, die mit ihrem Tode verbunden war; gerade daß solche Einzelheiten vermerkt werden, scheint mir wichtig für eine kommende Zeit, der derartige Dinge als unmöglich gelten müssen. Die vierundachtzigjährige Frau war morgens plötzlich bewußtlos geworden. Der herbeigerufene Arzt erklärte sofort, daß sie die Nacht kaum überleben würde, und bestellte eine Wärterin, eine etwa vierzigjährige Frau, an ihr Sterbebett. Nun waren weder mein Bruder noch ich, ihre einzigen Kinder, zur Stelle und konnten natürlich nicht kommen, da auch Rückkehr an das Sterbebett einer Mutter den Vertretern der deutschen Kultur als ein Verbrechen gegolten hätte. So übernahm es ein Vetter von uns, den Abend
in der Wohnung zu verbringen, damit wenigstens einer von der Familie bei ihrem Tode anwesend wäre. Dieser unser Vetter war damals ein Mann von sechzig Jahren, selbst nicht mehr gesund, und er ist tatsächlich auch ein Jahr später gestorben. Als er eben Vorbereitungen traf, im Nebenzimmer sein Bett für die Nacht aufzuschlagen, erschien – zu ihrer Ehre gesagt, ziemlich beschämt – die Pflegerin und erklärte, es sei ihr leider nach den neuen nationalsozialistischen Gesetzen nicht möglich, über Nacht bei der Sterbenden zu bleiben. Mein Vetter sei Jude, und sie als eine Frau unter fünfzig dürfe, auch bei einer Sterbenden, sich nicht gleichzeitig mit ihm unter demselben Dache über Nacht aufhalten, – der Mentalität Streichers gemäß mußte ja eines Juden erster Gedanke sein, Rassenschande an ihr zu praktizieren. Selbstverständlich, sagte sie, sei ihr diese Vorschrift furchtbar peinlich, aber sie sei genötigt, sich den Gesetzen zu fügen. So war mein sechzigjähriger Vetter, nur damit die Pflegerin bei meiner sterbenden Mutter verbleiben konnte, gezwungen, abends das Haus zu verlassen; vielleicht versteht man nun, daß ich sie glücklich pries, nicht länger unter solchen Menschen leben zu müssen.
Der Fall Österreichs brachte in meiner privaten Existenz eine Veränderung mit sich, die ich zuerst als eine gänzlich belanglose und bloß formelle ansah; ich verlor damit meinen österreichischen Paß und mußte von den englischen Behörden ein weißes Ersatzpapier, einen Staatenlosenpaß erbitten. Oft hatte ich in meinen kosmopolitischen Träumereien mir heimlich ausgemalt, wie herrlich es sein müsse, wie eigentlich gemäß meinem inneren Empfinden, staatenlos zu sein, keinem Lande verpflichtet und darum allen unterschiedslos zugehörig. Aber wieder einmal mußte ich erkennen, wie unzulänglich unsere irdische Phantasie ist und daß man gerade die wichtigsten Emp
findungen erst versteht, sobald man sie selbst durchlitten hat. Zehn Jahre früher, als ich Dimitri Mereschkowskij einmal in Paris begegnete und er mir klagte, daß seine Bücher in Rußland verboten seien, hatte ich Unerfahrener noch ziemlich gedankenlos ihn zu trösten versucht, das besage doch nicht viel gegenüber internationaler Weltverbreitung. Aber wie deutlich begriff ich, als dann meine eigenen Bücher aus der deutschen Sprache verschwanden, seine Klage, nur in Übertragungen, in verdünntem, verändertem Medium das geschaffene Wort zur Erscheinung bringen zu können! Ebenso verstand ich erst in der Minute, da ich nach längerem Warten auf der Bittstellerbank des Vorraums in die englische Amtsstube eingelassen wurde, was dieser Umtausch meines Passes gegen ein Fremdenpapier bedeutete. Denn auf meinen österreichischen Paß hatte ich ein Anrecht gehabt. Jeder österreichische Konsulatsbeamte oder Polizeioffizier war verpflichtet gewesen, ihn mir als vollberechtigtem Bürger auszustellen. Das englische Fremdenpapier dagegen, das ich erhielt, mußte ich erbitten. Es war eine erbetene Gefälligkeit und eine Gefälligkeit überdies, die mir jeden Augenblick entzogen werden konnte. Über Nacht war ich abermals eine Stufe hinuntergeglitten. Gestern noch ausländischer Gast und gewissermaßen Gentleman, der hier sein internationales Einkommen verausgabte und seine Steuern bezahlte, war ich Emigrant geworden, ein ›Refugee‹. Ich war in eine mindere, wenn auch nicht unehrenhafte Kategorie hinabgedrückt. Außerdem mußte jedes ausländische Visum auf diesem weißen Blatt Papier von nun an besonders erbeten werden, denn man war mißtrauisch in allen Ländern gegen die ›Sorte‹ Mensch, zu der ich plötzlich gehörte, gegen den Rechtlosen, den
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