Die Welt von Gestern
Einzelheit fühlte man friderizianische, knickerige Haushälterischkeit; der Kaffee war dünn und schlecht, weil an jeder Bohne gespart wurde, das Essen lieblos, ohne Saft und Kraft. Sauberkeit und eine straffe, akkurate Ordnung regierten allerorts statt unseres musikalischen Schwungs. Nichts war mir zum Beispiel charakteristischer als der Gegensatz meiner Wiener und Berliner Zimmerwirtin. Die wienerische war eine muntere, geschwätzige Frau, die nicht alles in bester Sauberkeit hielt, dies und das leichtfertig vergaß, aber begeistert
einem jede Gefälligkeit erwies. Die Berlinerin war korrekt und hielt alles tadellos im Stand; aber bei ihrer ersten Monatsrechnung fand ich in sauberer, steiler Schrift jeden kleinen Dienst berechnet, den sie erwiesen: drei Pfennige für das Annähen eines Hosenknopfes, zwanzig Pfennige für das Beseitigen eines Tintenflecks auf dem Tischbrett, bis schließlich nach einem kräftigen Addierstrich für ihre sämtlichen Bemühungen sich das Sümmchen von 67 Pfennigen ergab. Ich lachte zuerst darüber; charakteristischer aber war, daß ich selbst nach wenigen Tagen schon diesem peinlichen preußischen Ordnungssinn erlag und zum ersten und letzten Male in meinem Leben ein genaues Ausgabenbuch führte.
Von Wiener Freunden hatte ich eine ganze Reihe von Empfehlungen mitbekommen. Aber ich gab keine einzige ab. Es war doch der eigentliche Sinn meiner Eskapade, jeder gesicherten und bürgerlichen Atmosphäre zu entkommen und statt dessen losgelöst und ganz auf mich gestellt zu leben. Ich wollte ausschließlich Menschen kennenlernen, zu denen ich den Weg durch meine eigenen literarischen Bemühungen gefunden hatte – und möglichst interessante Menschen; schließlich hatte man nicht umsonst die ›Bohème‹ gelesen und mußte als Zwanzigjähriger wünschen, auch derlei zu erleben.
Einen solchen wild und wahllos zusammengewürfelten Kreis brauchte ich nun nicht lange zu suchen. Ich hatte von Wien aus längst an dem führenden Blatt der Berliner ›Moderne‹, das sich fast ironisch ›Die Gesellschaft‹ nannte und von Ludwig Jacobowski geleitet war, mitgearbeitet. Dieser junge Dichter hatte kurz vor seinem frühen Tode einen Verein mit dem für die Jugend verführerischen Namen ›Die Kommenden‹ gegründet, der einmal in der Woche sich im ersten Stock eines Kaffeehauses am Nollendorfplatz versammelte. In dieser der Pariser ›Closerie des Lilas‹ nachgebildeten riesigen Runde drängte sich das
Heterogenste zusammen, Dichter und Architekten, Snobs und Journalisten, junge Mädchen, die sich als Kunstgewerblerinnen oder Bildhauerinnen drapierten, russische Studenten und schneeblonde Skandinavierinnen, die sich in der deutschen Sprache vervollkommnen wollten. Deutschland selbst hatte aus allen seinen Provinzen Vertreter zur Stelle, starkknochige Westfalen, biedere Bayern, schlesische Juden: all das mengte sich in wilden Diskussionen und mit voller Ungezwungenheit. Ab und zu wurden Gedichte oder Dramen vorgelesen, die Hauptsache aber war für alle das gegenseitige Kennenlernen. Inmitten dieser jungen Menschen, die sich bewußt als Bohème gebärdeten, saß rührend wie ein Weihnachtsmann ein alter, graubärtiger Mann, von allen respektiert und geliebt, weil ein wirklicher Dichter und wirklicher Bohemien: Peter Hille. Dieser Siebzigjährige mit seinen blauen Hundeaugen blickte gutmütig und arglos in diese sonderbare Kinderschar, immer in seinen grauen Wettermantel gehüllt, der einen ganz zerfransten Anzug und sehr schmutzige Wäsche verdeckte; gerne ließ er sich jedesmal von unserem Drängen verleiten, aus einer seiner Rocktaschen ganz zerknüllte Manuskripte hervorzuholen und seine Gedichte vorzulesen. Es waren Gedichte ungleicher Art, eigentlich Improvisationen eines lyrischen Genius, nur zu locker, zu zufällig geformt. Er schrieb sie in der Straßenbahn oder im Café mit Bleistift hin, vergaß sie dann und hatte Mühe, beim Vorlesen in dem verwischten und verfleckten Zettel die Worte wiederzufinden. Geld hatte er niemals, aber er kümmerte sich nicht um Geld, schlief bald bei diesem, bald bei jenem zu Gast, und seine Weltvergessenheit, seine absolute Ehrgeizlosigkeit hatten etwas ergreifend Echtes. Man verstand eigentlich nicht, wann und wie dieser gute Waldmensch in die große Stadt Berlin geraten war und was er hier wollte. Aber er wollte gar nichts, nicht berühmt, nicht gefeiert sein, und war doch
sorgloser und freier dank seiner dichterischen Traumhaftigkeit, als ich es je später
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