Die Welt von Gestern
bei einem anderen Menschen gesehen. Um ihn lärmten und überschrien sich die ehrgeizigen Diskutanten; er hörte milde zu, stritt mit keinem, hob manchmal mit freundlichem Gruß einem das Glas entgegen, aber er mischte sich kaum je in das Gespräch. Man hatte das Gefühl, als ob selbst während des wildesten Tumults in seinem struppigen und ein bißchen müden Kopf Verse und Worte sich suchten, ohne daß sie sich ganz berührten und fanden.
Das Wahrhafte und Kindliche, das von diesem naiven Dichter ausging – der heute selbst in Deutschland nahezu vergessen ist –, lenkte vielleicht gefühlsmäßig meine Aufmerksamkeit von dem gewählten Vorstand der ›Kommenden‹ ab, und doch war dies ein Mann, dessen Ideen und Worte später unzähligen Menschen bei der Lebensformung entscheidend sein sollten. Hier, in Rudolf Steiner, dem später als Begründer der Anthroposophie die prachtvollsten Schulen und Akademien von seinen Anhängern zur Durchsetzung seiner Lehre gebaut wurden, begegnete ich nach Theodor Herzl zum erstenmal wieder einem Mann, dem vom Schicksal die Mission zugeteilt werden sollte, Millionen Menschen Wegweiser zu werden. Persönlich wirkte er nicht so führerhaft wie Herzl, aber mehr verführerisch. In seinen dunklen Augen wohnte eine hypnotische Kraft, und ich hörte ihm besser und kritischer zu, wenn ich nicht auf ihn blickte, denn sein asketisch-hageres, von geistiger Leidenschaft gezeichnetes Antlitz war wohl angetan, nicht nur auf Frauen überzeugend zu wirken. Rudolf Steiner war in jener Zeit noch nicht seiner eigenen Lehre nahegekommen, sondern selber noch ein Suchender und Lernender; gelegentlich trug er uns Kommentare zur Farbenlehre Goethes vor, dessen Bild in seiner Darstellung faustischer, paracelsischer wurde. Es war aufregend ihm zuzuhören, denn seine Bildung war stupend
und vor allem gegenüber der unseren, die sich allein auf Literatur beschränkte, großartig vielseitig; von seinen Vorträgen und manchem guten privaten Gespräch kehrte ich immer zugleich begeistert und etwas niedergedrückt nach Hause zurück. Trotzdem – wenn ich mich heute frage, ob ich damals diesem jungen Manne eine derartige philosophische und ethische Massenwirkung prophezeit hätte, muß ich es zu meiner Beschämung verneinen. Ich habe von seinem sucherischen Geiste Großes erwartet in der Wissenschaft, und es hätte mich keineswegs verwundert, von einer großen biologischen Entdeckung zu hören, die seinem intuitiven Geiste gelungen wäre; aber als ich dann Jahre und Jahre später in Dornach das grandiose Goetheanum sah, diese ›Schule der Weisheit‹, die ihm seine Schüler als platonische Akademie der ›Anthroposophie‹ gestiftet, war ich eher enttäuscht, daß sein Einfluß so sehr in das Breit-Reale und stellenweise sogar ins Banale gegangen. Ich maße mir kein Urteil über die Anthroposophie an, denn mir ist bis heute nicht deutlich klar, was sie will und bedeutet; ich glaube sogar, daß im Wesentlichen ihre verführende Wirkung nicht an eine Idee, sondern an Rudolf Steiners faszinierende Person gebunden war. Immerhin, einem Mann solcher magnetischen Kraft gerade auf jener frühen Stufe zu begegnen, wo er noch freundschaftlich undogmatisch sich Jüngeren mitteilte, war für mich ein unschätzbarer Gewinn. An seinem phantastischen und zugleich profunden Wissen erkannte ich, daß die wahre Universalität, derer wir uns mit gymnasiastischer Überheblichkeit schon bemächtigt zu haben meinten, nicht durch flüchtiges Lesen und Diskutieren, sondern nur in jahrelanger, brennender Bemühung erarbeitet werden kann.
Aber das Wesentliche lernt in jener aufnehmenden Zeit, wo Freundschaften sich leicht knüpfen und die sozialen oder politischen Unterschiede sich noch nicht verhärtet haben, ein jun
ger Mensch eigentlich besser von den Mitstrebenden als von den Überlegenen. Wieder spürte ich – nun aber auf einer höheren und internationaleren Stufe als im Gymnasium –, wie sehr kollektiver Enthusiasmus befruchtet. Während meine Wiener Freunde fast alle aus dem Bürgertum stammten und sogar zu neun Zehnteln aus der jüdischen Bourgeoisie, wir somit uns nur duplizierten und multiplizierten mit unseren Neigungen, kamen die jungen Menschen dieser neuen Welt aus ganz gegensätzlichen Schichten, von oben, von unten, preußischer Aristokrat der eine, Hamburger Reedersohn der andere, der dritte aus westfälischem Bauerngeschlecht, ich lebte plötzlich in einem Kreise, wo es auch wirkliche Armut mit zerrissenen
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