Diebin der Zeit
davon ausgenommen sind nur jene Frauen, die an den Hälsen der reichen Herrschaften hängen!
Einer der Gäste trägt einen ganz besonderen Schmuck: An seiner Brust, mit den Klauen im Stoff des Wamses verfangen, hängt eine Fledermaus. Ihre Schwingen sind voll entfaltet. Ist es eines der geflügelten Tiere, die Camille einließ? Aber wo sind die anderen geblieben?
Plötzlich überkommt mich die Furcht, daß diese angehaltene Szenerie jeden Moment wieder in Bewegung geraten kann. Daß ich nur eine Galgenfrist herausgeschunden habe. Wenn ich sie nicht nutze und rechtzeitig die Flucht ergreife, war alles umsonst .
Ich kann immer noch nicht glauben, daß ich das Verhängnis für Dianne und die anderen Bewohner des Hauses in der Herengracht gesät habe. Wozu brauchte ich diese Unmenge fremder Zeit?
Etwa um die Zeit nach meinem Willen zu formen, sie zum Stillstand zu bringen? Gab es nur diese eine Möglichkeit, um mich zu retten, und hat mein Instinkt dies vor dem Verstand erkannt?
Noch immer hadernd, nehme ich mir einen Mantel und etwas Geld und flüchte hinaus in die eisige Nacht.
So schnell mich meine Füße tragen, entferne ich mich von dort, wo ich für ein paar Monate Unterschlupf fand.
Ich lasse ein Grab zurück, denn im Fliehen stehle ich meinen Opfern auch noch den letzten Funken Zeit, der ihnen sonst vielleicht geblieben wäre.
Es ist ein Akt der Gnade. Mehr kann ich für Dianne nicht tun, denn meine Diebstähle rückgängig zu machen, habe ich nie gelernt.
In dieser Nacht verlasse ich Amsterdam, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Mein Fluchtweg ist gesäumt mit Menschen, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, so schnell verlieren sie ihr Leben.
Ich brauche ihre Jahre, um mich den Verfolgern sicher zu entziehen, denn irgendwann erlischt der Bann um diejenigen, die ich mir in dieser Nacht zu Erzfeinden gemacht habe.
Dann werden sie nach mir auszuschwärmen.
Ich fliehe vor ihnen ins Frankenreich, in die winterrauhe bretonische Küstenlandschaft. Dort will ich mich wenigstens bis zum Sommer in einer kleinen Stadt verstecken, die frei scheint von der Plage, die mich aus Amsterdam vertrieb.
Vielleicht kann ich die Gabe, von deren Existenz ich bis dato nicht einmal ahnte, näher erforschen. Das Talent, die Zeit für mich selbst zu beschleunigen, so daß alle anderen wie erstarrt wirken!
Offenbar braucht es enorm viele Leben, um Dinge, Mensch und Tier in einem Maße »einzufrieren«, wie ich es in der Herengracht 13 erprobte. Ohne echte Not, das schwöre ich mir, werde ich mich zu solchem Sterben nie wieder verführen lassen.
Aber in dem Moment, als ich diesen Schwur ablege, ahne ich nichts von dem, was ich sonst noch in mir trage - auch nichts von der unumgänglichen zweiten Begegnung mit dem, der mich aus der Prager Burg befreite.
Wenn ich ihn treffe, werde ich erfahren, daß alles, was er tut, ein Entgegenkommen verlangt, und muß den Preis, den er mir nennt, wohl zahlen. Wie jeder, der mit ihm paktiert - selbst wenn es die endgültige Verdammnis besiegelt.
Niemandem, der SEINE Wege kreuzt, bleibt eine Wahl .
*
Saquefort, einige Jahre nach diesen Ereignissen
Landru starrte auf die knabenhaft schlanke Frau, deren Schönheit geradezu unirdisch zu ihm herüberstrahlte. Sie war höchstens Mitte zwanzig. Ihre Haut wirkte durchscheinend wie Glas, und dieses Phänomen erlaubte es, die Vorgänge, die sich unter der Transparenz abspielten, schemenhaft zu verfolgen.
»Wir kennen uns?«
Ihre Stimme wurde durch das Idiom verfälscht, das sie verwendete.
Aber es war ihre Stimme, die Stimme, die zur äußeren Erscheinung paßte. Diese Frau hatte früher nur nie auf Französisch mit ihm gesprochen.
»Früher«, mehr als 400 Jahre in der Zukunft ...!
Dort war sie auch gestorben.
Landru hatte sie mit eigenen Augen am Eingang zum Zeitkorridor von Uruk liegen sehen, das Gesicht auf den Rücken gedreht, das Genick gebrochen, als hätte ein Vampir sich seiner Dienerkreatur zu entledigen versucht!
Aber Beth MacKinsay (ja, vor ihm stand Beth MacKinsay!) war nicht wie der Kadaver eines Untoten zu kalter Asche zerfallen. Sie hatte noch dagelegen, als Landru sich an Liliths Fersen geheftet hatte, um ihr zum Ende des Korridors zu folgen. Und wer sie umgebracht, wer ihr die Freundschaft schlecht gedankt hatte, stand außer Frage: Nur Creannas Balg Lilith konnte es getan haben! Sie war zu diesem Zeitpunkt völlig von der Macht besessen gewesen, die am Anfang der Zeit aus ihrem Stasisgrab erweckt werden wollte 2 :
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