Drachen der Finsternis
linken und der rechten ihrer wohlgeformten Brüste stillte.
Einmal – und nur aus Gründen der extremen Enge – streifte seine bloße Hand die Bluse der Frau, und da wurde der Stoff ganz und gar unsichtbar. Aber nur für eine halbe Sekunde. Danach zog Jumar die Handschuhe schnell wieder über. Er schwor sich jedoch, sie nie mehr auszuziehen, wenn er nicht absichtlich etwas verschwinden lassen wollte.
Die Männer im Bus jedoch fragten sich, ob doch etwas Wahres an dem Sprichwort war, dass man mit seinen Blicken eine Frau ganz und gar entkleiden könne – und sei es nur für eine halbe Sekunde.
An diesem Tage aber machte sich ein Gerücht auf den Weg von Kathmandu hinaus ins Land, über die grünen Reisterrassen hinauf in die Berge: das Gerücht, dass der König einen Sohn besaß, von dem bisher niemand gewusst hatte. Und dass er auf dem Weg war, auf dem Weg zu seinem Volk. Und dass er alles ändern würde, was bis dahin gewesen war.
Flüsternd, wispernd, raunend – Gerüchte reisen schneller als der Wind, schneller in jedem Fall als die Busse, die die Stadt in ihrem holprigen, schlecht gefederten Galopp verlassen, und so überholte das Gerücht den unsichtbaren Thronfolger lange, lange bevor er davon wusste.
Es ließ sich in den Bergen nieder, machte es sich in den Lehmhütten der Dörfer und auf den Feldern bequem und setzte sich in den Staub der Gassen, um auf ihn zu warten. Aber das Gerücht war mit blinden, weißen Augen geboren worden, und es wusste nicht, dass der Thronfolger unsichtbar war.
Als der Bus den ewigen Stau um Kathmandu verlassen hatte, war Jumar fest eingeschlafen. Er erwachte sehr viel später davon, dass der Bus mit quietschenden Reifen hielt. Die Frau mit den wohlgeformten Brüsten war ausgestiegen. Jumar drängte das Schaf zur Seite, um aus dem Fenster zu sehen. Draußen war es Nacht, und die Nacht war leer. Es schien keinen Boden darin zu geben. Jumar erschrak. Aber dann begriff er, dass er in ein Tal hinunterblickte. In das Tal Kathmandu Valley. Der Bus stand in einer der Serpentinen, und Jumar befand sich auf dem Weg in die Berge. Die nächsten drei Stunden ruckte der Bus nur millimeterweise vorwärts, und sein unsichtbarer Passagier bewegte sich zwischen diesen Rucken in einem Nebel zwischen Träumen und Wachen – er sah seinen Vater durch den Nebel schweben, sah den Pavillon im Garten auftauchen und das weiße Bett seiner Mutter, sah in den Nebelschwaden ihr schlafendes Gesicht –doch es verwandelte sich in das blutverschmierte Gesicht des alten Tapa mit den verquollenen Augen und den aufgesprungenen Lippen. Die Lippen öffneten sich, als wollten sie noch etwas sagen, etwas über die Drachen. »Das ist noch nicht alles«, hörte er im Nebel seines Traumes Tapa flüstern, »es gibt noch etwas, was du wissen musst... alle aussteigen!«
Jumar fuhr hoch, doch es war nicht Tapa, der die Leute jetzt unsanft von ihren Sitzen scheuchte, es war ein Polizist in blaugrauer Uniform. Jumar drängte sich mit den Leuten aus dem Bus und merkte, wie gut es tat, seine Beine zu strecken. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er lange und unbequem still gesessen. »Interessant«, bemerkte er zu sich selbst, »sehr interessant.« Die kühle Nachtluft streichelte seine Wangen, und sie trug die aufregenden Gerüche von Benzin, verbranntem Gummi und Schafsdung. Die Kolonne der Fahrzeuge erstreckte sich bis weit hinter die nächste Kurve, und gleich darauf sah Jumar, weshalb sich die Fahrzeuge hier im Nichts stauten: Vor ihnen lag einer der Kontrollpunkte, von denen er gehört hatte.
Hier also kontrollierten die Leute seines Vaters, ob sich Kommunisten im Bus befanden oder ob jemand den Kommunisten etwas brachte – Waffen, Papiere, Munition.
Er sah, wie sich die Leute in eine Schlange stellten, um an einem kleinen Tisch vorüberzugehen, wo zwei weitere Polizisten ihre Taschen öffneten und den Inhalt herauszerrten. Sie wühlten in der gefalteten Wäsche und schienen unzufrieden zu sein, weil sie nichts fanden. Jumar bekam allein vom Zusehen einen schlechten Geschmack im Mund und war froh, als der Bus schließlich weiterfuhr und er seinen Platz zwischen dem Schaf und den Kisten wieder einnehmen konnte.
Es war Zeit, dass jemand die Polizeikontrollen abschaffte. Es war Zeit, dass sie unnötig wurden. Das Schaf sah mit traurigen Augen durch ihn hindurch, und in seinen senkrechten Pupillen spiegelte sich nichts.
Am nächsten Morgen erwachte Jumar davon, dass das Schaf ihn trat, als es auf dem glatten
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