Die Kanzlerkandidatin - Kriminalroman
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H ANNOVER , L ANDTAG
M ÄRZ 2012
Kurz vor neun. Die Mitarbeiter der Landtagsverwaltung und der Fraktionen eilten in ihre Büros, auch der Abgeordnete Bernd Wagner. Er hatte es eilig. Wieder einmal.
Sein ganzes Berufsleben war das so gewesen. Als Journalist, als Regierungssprecher, als Wahlkampfmanager und jetzt als Landtagsabgeordneter. Er hetzte durchs Leben. Nur in den Monaten, als er Europaminister im Kabinett von „Albi“ – Alfred Bitter – gewesen war, ging es ruhiger zu. Seine humorlose, aber tüchtige Büroleiterin hatte seinen Terminplan minutiös ausgearbeitet und mit umsichtiger Strenge auf dessen Einhaltung geachtet. Und sie hatte auch aufgepasst, dass es zwischen den Terminen genügend Verschnaufpausen gab.
Die Büroräume der Bürgerfraktion befanden sich im hinteren Gebäudetrakt. Der dämmrige Flur im Leineschloss kam ihm heute besonders lang vor. Die laut klappernden Absätze von Marion Klaßen waren schon von Weitem zu hören. Auch das noch! Eine Begegnung mit der Fraktionsvorsitzenden der Bürgerpartei war das Letzte, was sich Wagner wünschte. Seitdem Marion Klaßen das Spitzenamt bekleidete, hatte sie eine fulminante Änderung vollzogen – innerlich sowie äußerlich. Ihre lockigen, rotbraunen Haare hatte sie durch eine Kurzhaarfrisur ersetzt. Betont kurze Röcke und hochhackige Pumps waren zu ihrem Markenzeichen geworden. Wie schafft man es bloß, sich auf derart hohen Stöckelschuhen so schnell vorwärtszubewegen, überlegte Wagner, während sie näher kam. Sie sieht wirklich umwerfend aus. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte er für sie geschwärmt. Seit sie allerdings die Fraktion leitete, hatte er an ihr Seiten kennengelernt, die ihn abstießen. Die Macht hatte sie verändert. Aus der zupackenden, toughen Abgeordneten war eine skrupellose Politikerin geworden, die rücksichtslos ihre Vorteile auszunutzen wusste. Marion Klaßen hatte nur ein flüchtiges Kopfnicken für ihn übrig. Eine Wolke blumigen Parfüms umwehte Wagner, nachdem sie an ihm vorbeigerauscht war.
In seinem Büro, einer winzigen, zwölf Quadratmeter kleinen Zelle, roch es muffig. Die Klimaanlage funktionierte wieder einmal nicht. Ständig war im Landtagsgebäude irgendetwas kaputt. Für das ortsansässige Handwerk war der Landtag eine schier unerschöpfliche Einnahmequelle.
Auf seinem Schreibtisch erwarteten ihn bereits die Verordnungen aus Brüssel. Bevor Wagner sich dem Wust an Unterlagen widmete, entnahm er seiner Aktentasche eine Tüte. Das Mandelhörnchen hatte er sich schon jetzt wahrlich verdient, fand Wagner. Denn Unterlagen aus Brüssel entpuppten sich fast immer als langweilige, oft zudem schwer verdauliche Kost.
Er hatte sich gerade erst durch eine neue Verordnung gekämpft, als es an seiner Tür klopfte. Sein Landtagskollege Tobias Wächter stand im Türrahmen. Er sah schlecht aus, die Augen wirkten müde, die Falten um seinen Mund herum waren noch tiefer als sonst. Er sah deutlich älter aus als einundsechzig.
„Komm doch rein“, forderte Wagner seinen Landtagskollegen auf. Mit einer ausladenden Geste deutete er auf die Unterlagen vor sich. „Schau dir das an, Tobias. Fünfzig Seiten aus Brüssel, die ich bis morgen Mittag gelesen haben muss. Der Vorsitz des Europaausschusses ist die Hölle!“
Wächter lächelte verhalten. „Lass doch den neuen Referenten den Mist für dich lesen, dafür hat die Fraktion ihn schließlich eingestellt.“
„Das würde ich nur allzu gerne, aber er sprach von einem brandeiligen Auftrag der Fraktionsvorsitzenden. Ich möchte ihr lieber nicht ins Gehege kommen.“
Das konnte Wächter gut verstehen. „Ich kenne niemanden, der so nachtragend ist wie sie“, ätzte er.
Wagner besann sich auf seine Gastgeberrolle. „Was führt dich zu mir? Setz dich doch. Möchtest du was trinken?“
Sein Besucher lehnte dankend ab und nahm auf dem einzigen freien Stuhl Platz. Dann schaute er sich suchend um, als ob er sich beobachtet fühlte. Fast flüsternd kam er schließlich zum Grund seines Besuches. „Es geht um eine höchst brisante Angelegenheit. Ich möchte aber nicht hier mit dir darüber reden. Die Wände im Landtag haben Ohren.“
Wagner riss die Augen weit auf. „Du meinst, an den Abhörvorwürfen ist etwas dran? Der Innenminister hat es vehement bestritten.“
Wächters Lächeln wirkte verkrampft. „Je vehementer bestritten wird, desto mehr Wahres ist dran. Der neue Innenminister ist ein Fliegenfänger. Ein schlechter Witz, ausgerechnet Lühmann zum
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