Drei Dichter ihres Lebens
Selbstbekenner zwanghaft bis zu einem gewissen Grade Dichter seines Lebens werden, so wird doch gerade die Anstrengung, wahr zu bleiben, das Höchstmaß ethischer Ehrlichkeit in jedem Bekenner herausfordern. Zweifellos ist die »Pseudokonfession«, wie sie Goethe nennt, das Beichten sub rosa, in der durchsichtigen Verhüllung des Romans oder des Gedichts, ungleich leichter und oftmals auch im künstlerischen Sinne eindringlicher, als die Darstellung mit aufgezogenem Visier. Aber eben weil hier nicht nur Wahrheit gefordert ist, sondern die nackte Wahrheit, stellt die Selbstbiographie einen besonders heroischen Akt jedes Künstlers dar, denn nirgends wird der sittliche Umriß eines Menschen so vollkommen verräterisch wie in seinem Selbstverrat. Nur dem gereiften, dem seelisch wissenden Künstler kann sie gelingen; darum ist auch die psychologische Selbstdarstellung erst so spät in der Reiheder Künste erschienen; sie gehört einzig unserer, der neuen und der noch werdenden Zeit. Erst mußte das Wesen Mensch seine Kontinente entdeckt, seine Meere durchmessen, seine Sprache erlernt haben, ehe es den Blick wandte in das Weltall seines Innern. Das ganze Altertum ahnt noch nichts von diesen geheimnisvollen Wegen: seine Selbstschilderer, Cäsar und Plutarch, reihen nur Fakten und sachliche Geschehnisse aneinander und denken nicht daran, nur einen Zoll tief ihre Brust zu eröffnen. Bevor er seine Seele belauschen kann, muß der Mensch ihrer Gegenwart bewußt geworden sein, und diese Entdeckung beginnt wahrhaft erst mit dem Christentum: die »Confessiones« des Augustinus eröffnen die innere Schau, doch ist der Blick des großen Bischofs im Bekennen weniger sich selbst zugewandt als vielmehr der Gemeinde, die er an dem Exempel seiner Wandlung zu bekehren, zu belehren hofft; sein Traktat will als Gemeindebeichte wirken, als vorbildliche Buße, also teleologisch, einem Zwecke zu und nicht sich selbst als Antwort und Sinn. Noch müssen Jahrhunderte hingehn, ehe Rousseau, dieser merkwürdig bahnbrechende, überall Tor und Riegel aufsprengende Mann, ein Selbstbildnis schafft um seiner selbst willen, selbst erstaunt und erschreckt von der Neuheit seines Unterfangens. »Ich plane ein Unternehmen«, hebt er an, »das kein Vorbild hat ... ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeichnen, und dieser Mensch bin ich selbst.« Aber mit der Gutgläubigkeit jedes Anfängers vermeint er noch das »Ich als eine unteilbare Einheit, als etwas Kommensurables« und die »Wahrheit« als eine faßbare und tastbare, noch glaubt er naiv »mit dem Buche in der Hand, wenn die Posaune des Gerichts erschallt, vor den Richter treten zu können und sprechen zu dürfen: Dies bin ich gewesen.« Unser späteres Geschlecht hat nicht Rousseaus brave Gutgläubigkeit mehr, dafür ein volleres, ein kühneres Wissen um die Vieldeutigkeit und Geheimnistiefe der Seele: in immer feineren Zerspaltungen, in immer verwegeneren Analysen versucht seine selbstanatomische Neugier Nerv und Ader jedes Gefühls und Gedankens bloßzulegen. Stendhal, Hebbel, Kierkegaard, Tolstoi, Amiel, der tapfere Hans Jäger entdecken ungeahnte Reiche der Selbstwissenschaft durch ihre Selbstdarstellung, und ihre Nachfahren werden, inzwischen mit feineren Instrumenten von der Psychologie versehen, immer weiter, Schichtum Schicht, Raum um Raum vordringen in unsere neue Welt-Unendlichkeit: in die Tiefe des Menschen.
Das mag Trost bieten all jenen, die einen Niedergang der Kunst innerhalb einer technischen und wachgewordenen Welt unablässig verkündet hören. Die Kunst endet nie, sie wendet sich nur. Zweifellos mußte die mythische Bildnerkraft der Menschheit nachlassen: immer ist ja Phantasie am mächtigsten im Kindwesen, immer erfindet jedes Volk sich nur in seiner Lebensfrühe Mythos und Symbol. Aber für die schwindende Traumkraft tritt die klare und dokumentarische des Wissens ausgleichend hervor; man sieht diese schöpferische Versachlichung in unserm zeitgenössischen Roman, der heute deutlich am Wege ist, exakte Seelenwissenschaft zu werden, statt frei und verwegen zu fabulieren. Aber in dieser Bindung von Dichtung und Wissenschaft wird die Kunst durchaus nicht erdrückt, es erneuert sich nur ein uraltes geschwisterliches Band, denn als die Wissenschaft begann, bei Hesiod und Heraklit, war sie Dichtung noch, dunkeltöniges Wort und schwingende Hypothese; nun eint sich nach tausenden Jahren der Trennung wieder der forschende Sinn dem schöpferischen an,
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