Als es Nacht war in Dresden: Roman (Frauenromane) (German Edition)
Prolog
An einem Februarabend klingelte das Telefon und Tante Ines meldete sich. Sie wollte wissen, wie es mir geht, und meinte, es könne mich ein wenig ablenken, wenn sie mich zu ihrem 90. Geburtstag an den Bodensee einlade. All meine Cousinen hatten bereits zugesagt. Auch sie hatten teilweise lange Anfahrten. Geplant war ein Fest mit etwa 50 Gästen, doch der größte Wunsch der Jubilarin war, ihre Nichten alle noch einmal zu sehen.
Tante Ines ist die jüngste Schwester meiner verstorbenen Mutter, die das älteste von sechs Mädchen war. Ines ist die einzige noch Lebende von ihnen. Erst vor ein paar Monaten starb ihre Schwester Wilhelmine mit 97 Jahren, einige Jahre zuvor meine Mutter – kurz vor ihrem 95. Geburtstag. Beide waren zuletzt einfach vom Alter gezeichnet.
In den vergangenen zwei Jahren konnte ich meine Mutter nicht besuchen. Wir haben zwar zwei- bis dreimal wöchentlich telefoniert, aber das ›Wann kommst du mal wieder?‹ stand ständig im Raum. Der Grund dieses Versäumnisses war die schwere Erkrankung meines Mannes Richard. Er wurde ab dem Oberschenkel amputiert und lag 15 Wochen in einer Klinik. Während des langen Klinikaufenthalts wurde eine bereits mittelschwere Parkinsonerkrankung festgestellt, die ebenfalls intensiv behandelt werden musste. Auch die sechsstündige Bahnfahrt stellte ein Hindernis für Besuche dar. Einmal fuhr ich für eine Woche in meinen Geburtsort nach Südbaden, um meine Mutter zu besuchen. Währenddessen musste mein Mann vom Pflegedienst und der jüngsten Tochter Carolin betreut werden. Meine Mutter wurde von meiner Schwester zu Hause gepflegt und so konnte ich mich während meines Aufenthalts ein wenig um sie kümmern. Sie saß tagsüber im Rollstuhl und konnte gemeinsam mit uns am Tisch zu Mittag speisen. Dass meine Mutter mich nicht mehr erkannte, war eine traurige Erfahrung. Des Öfteren fragte sie, wer ich sei, wo ich wohne und ob ich dableiben wolle. Es war naiv zu glauben, dass sie mich eigentlich an der Stimme erkennen müsste. Ich fühlte mich fremd und allein.
Kurz vor meiner Abreise, drei Wochen vor ihrem 95. Geburtstag, saß ich an ihrem Bett. Es war ein später Nachmittag, die Sonne schien angenehm in das Zimmer und kleine Lichtreflexe tanzten hin und her und mir fiel auf, dass sie immer wieder zum Fenster sah. Plötzlich nahm Mutter meine Hand und zeigte mit dem Finger nach dem Fenster.
»Siehst du die große Treppe da? Sie ist ganz breit und am oberen Ende ist es ganz hell. Bitte geh mit mir nach oben.«
Um sie abzulenken, sagte ich, dass ich große Schwierigkeiten hätte, Treppen zu steigen und erst recht bei so einer großen Treppe.
»Dann muss ich eben alleine hinaufgehen«, war die Antwort.
Als ich abreiste, schlief meine Mutter friedlich, ich habe mich daher nicht von ihr verabschiedet. Das erleichterte mir die Trennung. Die Erkenntnis, dass Mutter nicht wusste, dass ich ihre erstgeborene Tochter bin, war für mich schmerzlich. Drei Wochen nach meiner Abreise starb sie. Zu ihrer Beerdigung konnte ich die lange Reise nicht noch einmal machen, Richard brauchte mich dringender. Die Pflege nahm mich rund um die Uhr in Anspruch, das Aufstehen schaffte er nicht mehr ohne Hilfe. Durch das lange Liegen hatten sich die Sehnen verkürzt und Stehen war nicht mehr möglich. Dass er zwei bis drei Stunden im Rollstuhl sitzen konnte, machte mich schon glücklich. Auf diese Weise konnten wir ab und zu spazieren gehen oder wir saßen hinter dem Haus auf unserer großen Terrasse mit dem geliebten Fernblick. Im Winter saß Richard meist am Küchenfenster und beobachtete die Vögel. Wir stellten immer ein Vogelhaus auf, um den kleinen Gesellen eine ruhige Futterstelle zu bieten. Es war eine wahre Freude, ihnen zuzusehen. Unser Leben beschränkte sich ganz auf unser Zuhause, ich tat alles, um es uns recht gemütlich zu machen. Wir beide haben eigentlich nichts vermisst, und Richard war so bemüht zu zeigen, wie dankbar er für alles war. Wir hatten ja uns. Wenn ich ihm über die Haare strich, leuchteten seine Augen und er lächelte mich an. Sein Lächeln war bezaubernd und ließ mich dann die Sorgen und Nöte vergessen. Das Sprechen fiel ihm oft schwer, trotzdem verstand ich ihn, seine Gesten ließen mich das Übrige erkennen. Er versuchte, mir verständlich zu machen, dass ich doch sehr viel Mühe mit ihm habe, aber ich verneinte und sagte ihm, dass er mich genausowenig im Stich ließe, wenn es umgekehrt wäre. Doch langsam verschlechterte sich sein Zustand, er
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