Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
dass sie keine Trauer verspürt.
Welches Mittel ist … gegen Trauer?
Die Schwester sieht sie fragend an.
Gegen – Trauer, gegen – Weinen!
Verdammt, im Augenblick, da sie das Wort Antidepressivum aussprechen will, ist es fort. Kommt zurück. Nächster Versuch. Wieder ist es im Augenblick des Sprechens verschwunden.
Das ärgert sie so, dass sie wütend wird.
Sie schnaubt.
Na, nu lassen Se man Ihre Wut stecken, ick kann doch ooch nichts dafür!
Anti-…, Anti…dep-prissum, radebrecht sie.
Ach so! Die Schwester lacht und zeigt auf eine kleine Tablette in der Schale. Komisch, dass solche winzigen Pillen große Trauer wegziehen sollen.
Sie nimmt die Tablette aus der Schale und legt sie daneben. Die anderen schluckt sie. Es ist ein Antibiotikum dabei gegen Harnwegsinfekte. Das braucht sie eigentlich nicht, denn asymptomatische Bakteriurie begleitet sie, seit sie erwachsen ist.
Aber das kann sie nicht sagen.
Das Antidepressivum liegt immer wieder in ihrer Schale. Sie macht kein Geheimnis daraus, dass sie es nicht nimmt, aber niemand registriert das. So ist schon eine hübsche Pillensammlung in ihrer Schublade zusammengekommen. Sie überlegt, wem sie die schenken könnte. Ihr fällt nur Raphael ein. Raphael will heute oder morgen zu Besuch kommen. Raphael ist depressiv, lehnt es aber ab, Antidepressiva zu schlucken, weil er Angst vor der Abhängigkeit hat. Ihm kann sie die Pillen also nicht schenken. Außerdem geht es ihm meist gut, wenn er jemanden zum Betutteln hat. Dass sie so schnell zu jemandem werden könnte, den Raphael betutteln kann, hätte sie nicht gedacht.
Sie seufzt.
Morgens kommt die Ergotherapeutin. Sie übt Anziehen mit ihr. Viel kommt nicht dabei heraus. Mit links Zähne putzen geht gut. Zahnpasta auf die Bürste drücken, Wasser in den Becher laufen lassen – einhändige Abenteuer. Den Waschlappen kriegt sie zwar nass, aber die Kraft der linken Hand reicht nicht aus, das Wasser so weit wieder herauszupressen, dass sie sich unbeschadet das Gesicht waschen kann. Hinterher sieht sie aus wie ein begossener Pudel. Zum Glück ist es warm, und die Wäsche trocknet schnell wieder. Nach der Morgentoilette nimmt die Ergotherapeutin sie zum Frühstück in den Gemeinschaftsraum mit. Sie bekommt ein Brettchen mit Nägeln und Saugnäpfen. Es wird am Tisch befestigt. Das Brötchen drückt sie in die Nägel und versucht, es mit der linken Hand aufzuschneiden. Schweiß trieft. Sie bestreicht es mit Butter und Marmelade und lässt es sich schmecken. Seit gestern bekommt sie keine Schnabeltasse mehr. Die Flüssigkeit läuft am Kinn herunter, sie bekommt nicht alles in den Mund hinein. Die rechte Gesichtshälfte ist gelähmt. Sie lacht, als sie sich vorstellt, wie sie mit halbem Gesicht lacht.
Ihre Schwestern sind da. Als die Tür aufgeht und sie ins Zimmer treten, ist sie so überrascht, dass sie vor Aufregung einpinkelt. Zum Glück müssen die beiden das nicht merken. Marika ist drei, Ellen sechs Jahre jünger als sie. Eine wohnt in Dresden, die andere in der alten Thüringer Heimat. Dass sie für nur einen Nachmittag nach Berlin fahren, um ihre große Schwester zu besuchen, rührt Helene.
Warum sehen sie hilflos aus? Sie freut sich doch so! Ach, jetzt sieht sie es: Die dicke, einbeinige Frau Bandner vom Bett gegenüber hat sich wieder mal die spärlichen Sachen vom Leibe gefetzt. Sie wird sondenernährt, ein Schlauch geht von außen direkt in den Magen. Wenn sie sich die Sachen vom Leibe fetzt, hat sie eingekackt. Ja, es stinkt. Man muss die Schwester rufen. Ellen und Marika werden aus dem Raum geschickt. Sie wollen Helene mitnehmen. Aber die ist nass, also versucht sie, Zeit zu schinden und der Schwester geheime Zeichen zu geben. Leider ist die Toilette ganz am Ende des langen Flures, sodass sie nicht unbemerkt hinkäme. Sie gibt es auf und zeigt ihren Schwestern die Bescherung. Nun sehen sie noch hilfloser aus, Ellen ist puterrot im Gesicht. Helene versucht zu sagen, dass sie hinauskommt, wenn sie trockengelegt wurde. Sie gehen erst einmal. Hoffentlich nur bis auf den Flur? Es dauert lange, bis sich die Schwester um sie kümmern kann. Sie wäscht sie schnell im Bett, das sie danach abzieht.
Neben Frau Bandner liegt eine alte Frau, die Zeichen der Austrocknung aufwies, als sie eingeliefert wurde. Immer sieht sie Schützen im großen Baum vor dem Fenster, die auf sie angelegt haben. Deshalb hält sie den Deckel des Nachtgeschirrs zitternd vor ihren Kopf und wagt sich nicht zu rühren. Bestimmt haben Ellen und
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