Eifler Zorn
»dann sollten Sie vielleicht einmal
runter nach Gemünd zum Seniorentanztee fahren. Das würde Ihnen bestimmt Spaß
machen.«
»Bin ich do nitt zo alt für,
Frau Wachtmeister?« Gertrud Jansen schüttelte den Kopf. »Un wie soll ich dann
do hinkumme?«
»Vielleicht kann ja Herr
Hilgers …«
»Ina?«, unterbrach Sandra
mich und gestikulierte Eile. »Es ist dringend.«
»Sag Herrn Ettelscheid, ich
rufe zurück, wenn wir im Auto sitzen.«
Sandra steckte ihr Telefon
ein. »Es ist nicht der Förster. Es ist die Wache in Schleiden. Wir haben einen
Toten.«
ZWEI
Paul drückt Emmas Bein zur Seite, dreht sich behutsam, um sie nicht zu
wecken, und zieht das Heft unter der dünnen Matratze hervor. Im fahlen Licht
erkennt er die Zahlenreihen nur schlecht. Im Nebenbett hustet sein Vater.
Trocken und hart, wie seit Wochen schon. Die Mutter stöhnt leise. Ist sie wach?
Paul wendet den Kopf, versucht eine Regung hinter dem Deckenberg zu erkennen.
Aber alles bleibt ruhig. Vielleicht macht sie es wie er, stiehlt sich einige
Minuten, bevor der Tag beginnt. Sie leben zu sechst in diesem Zimmer, die
Eltern, seine Geschwister und er. Von der Tür bis zum einzigen Fenster sind es
acht Schritte, von der Wand, an der Emmas Bett steht, bis zu dem kleinen
Schrank mit der Waschschüssel sieben. Sie haben es ausprobiert, als sie zum
Beginn des neuen Jahres herzogen. 1903 begann mit einer Verbesserung. Das
Zimmer, in dem sie vorher gehaust hatten, gehörte ihnen nicht allein. Ein
Kreidestrich auf dem Boden teilte es zwischen ihnen und der anderen Familie
auf. Die Frauen hatten Bettlaken aufgehängt, aber diese behelfsmäßigen
Trennwände hielten nur die Blicke, nicht die Geräusche und den Gestank ab.
Nicht das Stöhnen und Husten der alten Frau im Bett gegenüber. »Sie sollte sich
beeilen mit dem Sterben, bevor wir noch alle krank werden«, hatte Mutter leise
gesagt und das Laken auf der Leine gerade gezogen. Irgendwann, mitten in der
Nacht, war Paul erwacht, weil etwas fehlte. Die alte Frau hatte aufgehört zu
husten. Und zu atmen. Am nächsten Morgen hatten die Männer sie nach unten
getragen, steif wie ein Brett, ganz bleich. Leicht hatte sie sich angefühlt,
als Paul sie an den Schultern gefasst und den Männern geholfen hatte. Trotzdem
ist sie nicht früh genug gestorben. Drei Tage nachdem sie in ihr neues Zimmer
gezogen waren, hustete der Vater. Und jetzt, nach drei Monaten, sieht er so
aus, wie die alte Frau ausgesehen hatte, und fühlt sich auch so an. Leicht.
Federleicht.
Paul
konzentriert sich auf das, was vor ihm liegt. Haben und Soll. Spalten, wie mit
dem Lineal ausgerichtet, senkrechte Zahlenkolonnen wie Soldaten, in Reih und
Glied, keinen Jota zur Seite ausweichend. Heinrich hat ihm das Heft gezeigt,
als sie gemeinsam aus der Fabrik nach Hause gegangen sind, ganz so, wie sie bis
vor ein paar Wochen immer zusammen aus der Schule heimgingen. Schon da waren
sie Freunde, auch wenn Paul mit jedem Tag, den sein vierzehnter Geburtstag
näher rückte, klarer wurde, dass sich ihre Wege trennen würden. Heinrich durfte
in die Lehre, durfte lernen zu rechnen, mit dem Geld, das Arbeiter, wie er
einer werden würde, der Fabrik einbringen.
Emma
rollt sich zusammen und legt ihren Kopf auf sein Knie. Die Stirn seiner
Schwester fühlt sich heiß an, sie hat wieder Fieber. Er streicht ihr über die
feuchten Haare. Sie ist nur ein Jahr jünger als er. Er hat ihr seinen Traum
anvertraut. Dafür, dass sie ihn nicht ausgelacht, ihn nicht entmutigt hat,
liebt er sie. Sie glaubt an ihn. Hofft für und mit ihm, auf ein neues und
besseres Leben. Aber auch sie wird im Sommer endgültig in die Fabrik wechseln.
Schon jetzt haben die Eltern den Lehrer darum gebeten, sie am Nachmittag aus
der Schule zu entlassen, damit sie in die Werkstatt gehen und bei den Frauen,
die dort im Schein der Petroleumlampen die Papiertüten falten und kleben, für
den Nachschub an Papier und Kleister sorgen kann. Sie teilen sich das alte Bett
mit Johann und Anna. Die beiden sind noch zu klein, um einer bezahlten Arbeit
nachzugehen. In der engen Schlafstatt liegen die Mädchen zum Kopfende, die
Jungen zum Fußende hin. So ist mehr Platz, und trotzdem können sie sich gegenseitig
wärmen.
Paul
schiebt die Decke über Emmas Schultern und konzentriert sich wieder auf die
Zahlenreihen. Er bemüht sich zu verstehen. Heinrich hat versprochen, es ihm zu
erklären, wenn sie sich das nächste Mal begegnen.
»Mach dir
keine falschen Hoffnungen, Junge.«
Er zuckt
zusammen und
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