Ein Garten im Winter
Leben diese Frau sonst hätte führen können. Wenn sie nicht wieder heimgekehrt wäre, um die Obstplantage zu leiten und ihre Kinder aufzuziehen. Wenn sie nicht so jung geheiratet hätte. Welch eine Frau wäre sie wohl dann geworden?
Und dann zerplatzte die Vorstellung wie eine Seifenblase und sie war wieder dort, wo sie hingehörte.
»Bist du zum Abendessen zu Hause?«
»Bin ich doch immer.«
»Sieben Uhr.«
»Aber sicher«, sagte er und blätterte eine Seite um. »Lass uns einen Termin machen.«
Um acht Uhr saß Meredith an ihrem Schreibtisch. Wie üblich war sie die Erste und wanderte durch das Großraumbüro im zweiten Stock des Lagerhauses, um überall Licht zu machen. Sie kam am – nun unbenutzten – Büro ihres Vaters vorbei und verharrte lange genug, um einen Blick auf die Auszeichnungen an seiner Tür zu werfen. Dreizehnmal war er zum Apfelproduzenten des Jahres gewählt worden, und seine Konkurrenten fragten ihn immer noch regelmäßig um Rat. Es war ganz gleich, dass er sich eigentlich vor zehn Jahren zur Ruhe gesetzt hatte und nur noch gelegentlich ins Büro kam. Er war immer noch der Kopf der Belije Notschi-Apfelplantage, der Mann, der dem Golden Delicious in den Sechzigern, dem Granny Smith in den Siebzigern und Braeburn und Fuji in den Neunzigern den Weg bereitet hatte. Seine Kühltechnik für Langzeitlagerung hatte die Branche revolutioniert und die Möglichkeit geschaffen, die besten Äpfel auf dem Weltmarkt zu verkaufen.
Natürlich hatte Meredith auch ihren Anteil am Wachstum und Erfolg des Unternehmens. Unter ihrer Leitung waren die Kühlräume vergrößert worden, und jetzt bestand ein Großteil ihrer Aufträge darin, die Früchte anderer Produzenten zu lagern. Sie hatte auch den alten Apfelverkaufsstand an der Straße zu einem Geschenkartikelladen ausgebaut, in dem viele verschiedene selbstgemachte Kunstgewerbeartikel und Spezialitäten der Region sowie Souvenirs von Belije Notschi verkauft wurden. Zu dieser Jahreszeit – kurz vor Weihnachten –, wenn scharenweise Touristen wegen des weltberühmten Weihnachtsmarktes nach Leavenworth strömten, fanden mehr als genug ihren Weg zum Laden.
Als Erstes an diesem Morgen griff Meredith zum Telefon und rief ihre jüngere Tochter an. In Tennessee war es gerade kurz nach zehn.
»Hallo?«, murmelte Maddy undeutlich.
»Guten Morgen«, sagte Meredith fröhlich. »Hört sich an, als hättest du verschlafen.«
»Oh. Mom. Hi. Ich bin gestern spät ins Bett. Hab gelernt.«
»Madison Elizabeth.« Mehr brauchte Meredith nicht zu sagen.
Maddy seufzte. »Okay, schon gut, es war eine Lambda-Chi-Party.«
»Ich weiß, das Studentenleben ist aufregend, und du möchtest jede Minute davon auskosten, aber nächste Woche hast du deine erste Abschlussprüfung. Dienstagmorgen, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Du musst lernen, eine Balance zwischen Studium und Freizeit zu finden. Und jetzt beweg deinen lilienweißen Hintern aus dem Bett und geh zur Uni. Auch das ist etwas, was du lernen musst: die Nacht durchmachen und am nächsten Morgen trotzdem pünktlich aufstehen.«
»Die Welt wird schon nicht untergehen, wenn ich einmal das Spanisch-Seminar verpasse.«
»Madison.«
Maddy lachte. »Okay, okay. Ich stehe schon auf. Spanisch 101, ich komme! Hasta la vista … Ba- by. «
Meredith lächelte. »Ich melde mich Donnerstag noch mal und frag nach, wie dein Referat gelaufen ist. Und ruf deine Schwester an. Sie ist wegen der Biochemie-Prüfung im Stress.«
»Ist gut, Mom. Ich hab dich lieb.«
»Ich hab dich auch lieb, Prinzessin.«
Als Meredith auflegte, fühlte sie sich schon besser. Die nächsten drei Stunden konzentrierte sie sich auf die Arbeit. Sie las gerade den neuesten Erntebericht, als ihre Gegensprechanlage summte.
»Meredith? Ihr Vater ist am Telefon.«
»Danke, Daisy.« Sie griff nach dem Hörer. »Hi, Dad.«
»Mom und ich haben uns gefragt, ob du heute nicht zum Lunch zu uns kommen möchtest.«
»Ich versinke hier in Arbeit, Dad –«
»Ach, bitte.«
Meredith hatte ihrem Vater noch nie etwas abschlagen können. »Okay. Aber um eins muss ich wieder hier sein.«
»Sehr schön«, sagte er, und sie hörte, dass er lächelte.
Sie legte auf und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Da in letzter Zeit die Produktion gestiegen, die Nachfrage jedoch gesunken war, verbrachte sie neuerdings häufig ihre Tage damit, Löcher zu stopfen, und heute war keine Ausnahme. Gegen Mittag hatte sich ein leichter Kopfschmerz an ihrer Schädelbasis festgesetzt
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