Ein Jahr in Stockholm
Ausläufer des Mälarensees, trifft auf Saltsjön aus dem Meer. An Slussen, den Schleusen zwischen der Altstadt und der Nachbarinsel Södermalm, stößt salziges Wasser auf süßes. Egal, welches von beiden es ist: Ich hoffe, es steigt mir nicht gleich bis zum Hals.
Lars wartet am Sergels torg auf mich. Er hatte auf Sannes Fest angeboten, mir einige Ecken seiner Metropole zu zeigen. Er nannte sie sein „überschaubares Paradies“, was sich schön gemütlich anhörte. Sven, ein anderer Partygast, sprach vom „Weltzentrum der Solidarität und Gleichheit“. Aha, der Wohlfahrtsstaat also. Für Selma Lagerlöf war sie die „schwimmende Stadt“, und mein Reiseführer titelte, wohl wegen der 57 Brücken, „Venedig des Nordens“. Dieses flunderplatte Resümee von einer Menge Wasser und Wegen darüber müssen bekanntlich auch Sankt Petersburg, Amsterdam, Kopenhagen und Paris ertragen. Origineller fand ich da Oskars Einschätzung, der auf seinen Teller mit Senf, Ketchup, Kaviar und der typischen braunen Soße deutete, in denen köttbullar , Fleischbällchen, und Kartoffeln schwammen: „Das ist Stockholm! Alles eben. Alles klar?“
„Kann nicht sein. Da ist ja mal wieder kein Stängel Grünes in deinem Essen“, wiegelte Caro ab, woraufhin Oskar eine Tube gehackte Essiggurken über seinem Feierabendsnack leerte. „Du verstehst nichts. Keine Insel hier in der Stadt ist wie die andere; sie sind Gegensätze. Und sogar auf den Inseln geht es total widersprüchlich zu, nichts passt zusammen – und eben doch. Stockholm ist alles und steckt voller Überraschungen – besonders für Ausländer, die keine Ahnung vom Leben hier haben.“
Er hat Recht. Ich weiß von der Stadt bislang wenig mehr, als dass sie permanent in Feierlaune ist. Caro und ich haben uns gerne zu diversen Vorfeten und Clubpartys verführenlassen – schon allein, um im Café Opera , im Undici , im Hotellet oder in der SpyBar die Schickeria Östermalms zu studieren, in der die Frauen künstliches Blond auf dem Kopf tragen, künstliches Braun auf der Haut und künstliche Brüste vor sich her. Die Männer dazu sind androgyne H&M -Models mit langem Haarschopf und anliegenden Jeans um die schlaksigen Beine. Ab zwei Uhr nachts gehen sie ab wie Schmitts Katze mit Zäpfchen, wie Caro es nennt, wenn ein Fang gut situierter Schweden über Cocktail-Theken hechtet und Barmänner zu Boden reißt, auf mit Tequila besudelten Tischen im Takt hopst und auf einem Sofa im Eck einen rhythmischen Striptease hinlegt. Sollte man gesehen haben.
Nun ist es aber Zeit, der hiesigen Kultur den Weg zu mir als neuem Mitglied der Stadtgemeinschaft zu bahnen – und nebenbei die Hosen am Bund wieder bequemzulaufen. Da kommt Lars gerade recht. Er verachtet die High Society, mich hingegen scheint er zu mögen. Mir gefällt er ohnehin – auch weil er die Mission unkonventionell angeht. „Hier siehst du: den hässlichsten Platz der Welt.“ Er deutet zum Springbrunnen vor meiner Nase, um den sich in mehreren Reihen ellipsenartig der Berufsverkehr schiebt. Aus der Mitte erhebt sich ein unförmiger Glasbrocken, der zu allem Übel noch beleuchtet wird. Ein bloßgestellter dreckiger Klotz. Die Stockholmer nennen diesen Turm verachtend dumma pinnen , dummer Stock; für Lars ist er der Rattenschwanz vom Bahnhofsviertel.
Diese Bezeichnung finde ich vor allem deswegen passend, weil meine t-bana vor wenigen Tagen für eine kleine Ewigkeit im Tunnel zwischen Östermalmstorg und T-Centralen steckengeblieben war. Den Grund dafür erfuhr ich, als ich am folgenden Abend mit meiner Mutter telefonierte und sie mir aus der Zeitung vorlas:
Eine Ratte hat in einem Stockholmer Umspannwerk für einen dreistündigen Stromausfall im Hauptbahnhof gesorgt.Auch Hotels und Geschäfte waren betroffen, wie ein Sprecher der Elektrizitätsgesellschaft Fortum sagte. Die Ratte habe eine Verbindung zwischen verschiedenen Komponenten hergestellt und so einen Kurzschluss ausgelöst. „Sie muss wirklich groß gewesen sein, denn zwischen den Teilen, die sie berührt hat, besteht ein gewisser Abstand“, sagte der Sprecher weiter. Das Tier zerplatzte und verursachte eine massive Verunreinigung.
In Braun- und Grautönen gestaltet sich auch der Rest der sogenannten Stockholmer City, des neuen Zentrums. Bei der Stadtsanierung in den Fünfziger- bis Siebzigerjahren fiel die Abrissbirne über 750 kulturhistorisch wertvolle Gebäude in dieser Gegend her. Nun prägen „Die fünf Trompetenstöße“ das traurige Bild:
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