Ein Jahr in Stockholm
Stadt. Erklimmen die ausgetretene Steintreppe in Mårten Trotzigs Gränd, der schmalsten Stockholmer Gasse, an deren oberem Ausgang wir nebeneinander nicht mehr durchpassen. Als Lars unerwartet den Gentleman gibt und mich vorlässt, stolpere ich und lande im Matsch der Regenrinnen. Es würde mich umhauen, hatte er ja versprochen. Am Geburtshaus des Malers Carl Larsson gleich ums Eck befindet sich aber ein Brunnen, an dem ich halbwegs sauber werde.
Dann laufen wir zum Brända tomten, wo vor knapp dreihundert Jahren die Häuser verbrannten, lassen uns unter einer Kastanie nieder, und Lars erzählt von seiner Exfreundin, einer Göteborgerin, die er kurioserweise in Hamburg kennengelernt hatte. „Aber das ist vorbei. Viele Schweden bewahren sich ein Hintertürchen, also sei auf der Hut.“ Er zwinkert, aber ich kann nicht einschätzen, wie ich das zu deuten habe. Ist er wieder zu haben, weil er ihr oder sie ihm fremdgegangen ist? Und ging das jetzt direkt in meine Richtung? Oder gehörte das zu den allgemeinen Kulturinformationen?
Auf diese überraschende Offenheit in Sachen Liebe folgt etwas, das Oskar bereits mehrfach zur Schau gestellt hat: die Angst vor Nähe und Konflikten. So schwenkt auch Lars in unserer Schweigepause betont unbekümmert auf das scheinbar Wesentliche um. Unten, auf der Västerlång, Hausnummer 27, habe der berühmte Architekt Erik Palmstedt gelebt, zwei Eingänge weiter Ministerpräsident Olof Palme, bevor er 1986 mit Frau Lisbet zu einem Kinobesuch aufgebrochen und an der Ecke Sveavägen/ Tunnelgatan erschossen worden war.
Soso. Ich kann gerade nicht besonders gut zuhören, weil ich versuche, die schwedische Psyche zu ergründen. Erst die deutschen Spuren auf schwedischem Boden machen mich beim Weiterschlendern aufmerksam: „An Gottes Segen ist alles gelegen“, lese ich auf Ornamenten der Patrizierhäuser, und „Auf Gott allein setz die Hoffnung dein“. „Fürchtet Gott! Ehret den König!“ Was ist denn hier los? Ich weiß nicht recht, ob ich entzückt sein soll, weil ich mich als Deutsche im Ausland gerade so leicht zurechtfinde, oder ob ich mich ärgere, dass das Ausland so bekannt daherkommt. Wir sind im ehemaligen Viertel der deutschen Kaufleute gelandet. Seine wunderbaren kleinen Läden, die Kirche und die Gassen Tyska skolgränd, Tyska stallplan, Tyska brunnplats schließe ich sofort ins Herz.
Und beim nächsten Mal, nehme ich mir vor, kümmern Lars und ich uns mehr um die Innenschau als um den Häuserbau.
Ein paar Tage später sitze ich mit lauter Finnen, zwei Japanerinnen, einem Engländer und einem Jamaikaner im Sprachkurs für fortgeschrittene Einwanderer. Unser Lehrer ist Sverker, ein Mittdreißiger in Pantoffeln und orangefarbenen Wollsocken. Er hat mich zum Glück – und, wie er sagt, sehr gerne – nachträglich in seinen Kurs aufgenommen. Nach der verpassten Anmeldestunde muss ich nun allerdings vor die Klasse, um mich vorzustellen, was ich nicht nett finde.
Ich sage also schnell auf Schwedisch, wie ich heiße und wie alt ich bin, dass ich Englisch und Französisch spreche, für die Zeitung schreibe und Politik studiert habe. Das findet Sverker schon mal ungeheuer langweilig.
„Erzähl lieber Geschichten, Vorlieben, Kleinigkeiten, die genau dich ausmachen. Sei doch nicht so deutsch.“
Der Vorwurf trifft mich dort, wo es am meisten schmerzt. In den Tiefen meiner im Ausland vom schlechten Gewissen geplagten Seele. Ich bin deutsch, und als wäre das noch nicht Zumutung genug, verhalte ich mich auch so. Doch das hatte Sverker nicht gemeint. Vielmehr sollten seine Worte motivierend auf mich wirken. Offensichtlich bin ich im Psychokurs für Anfänger gelandet, der mir den Weg zu meinem Ich und einem erfüllten Leben ebnen soll. Ich für meinen Teil würde mich damit begnügen, fließend Schwedisch zu können und ein paar nette Leute zu treffen. Doch alle im Raum fixieren mich wie Löwen ein Zebra und gieren nach meinem Innersten. Genau das rät mir, mich mit Vollgas aus der Tür zu empfehlen. Ich schlucke.
„Also, äh, meine Lieblingsfarbe ist Grün, und ich mag keinen Fisch. Die Konsistenz ist eigenartig, da esse ich die Kartoffeln lieber ohne.“ Ich spüre das Fragezeichen inmeinem Gesicht, und auch die Runde sieht mich verstört an. Der Engländer nennt mich „Kartoffel“, die Japanerinnen tuscheln. Bei den hier vorrätigen Nationen ist es schwer zu punkten. „Sonst schaue ich gerne Fußball“, sage ich und blicke dabei zum Briten, „mag die Musik aus dem
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