Eine Ahnung vom Anfang
aufbewahren soll. Ich habe ihm eine Angel gebastelt, die er unverdrossen ins Wasser hält, ohne sich entmutigen zu lassen, wenn er nichts fängt. Dazu habe ich ihm Pfeil und Bogen geschnitzt, und wenn ich ihm erzähle, am andern Ufer seien Indianer, sagt er, wir müssten uns besser bewaffnen, wir bräuchten Gewehre, und ich sage ja, und er lässt sich damit zufriedenstellen, dass ich ihm den buchstäblichen Schießprügel aus einem Aststück hacke, und ballert wild in der Gegend herum, kann mit seinem Mund ein halbes Dutzend Laute für Schüsse und Querschläger und Ladehemmungen und was weiß ich was erzeugen. Wir streifen durch das Dickicht, oder ich sehe ihm zu, wie er auf einen Baum klettert, und hole ihn wie eine Katze aus dem Geäst, wenn er sich nicht mehr heruntertraut. Er schleppt wahllos Dinge herbei, die er im Wald findet, einmal einen Frauenschuh, ein anderes Mal die Überreste einer toten Krähe, dann wieder ein gebrauchtes, vom langen Herumliegen porös gewordenes Kondom oder eine rostige Mundharmonika, einen plattgedrückten Lederball, einen zerfressenen Strohhut. Er liebt das Feuer, und wenn ich mich überreden lasse, mitten am Tag eines anzuzünden, setzt er sich dicht davor und kann nicht genug davon kriegen, in die Flammen zu starren. Jedesmal will er danach wissen, wohin wir gingen und was wir täten, wenn alles brennen würde, und ich lege ihm einen Arm um die Schultern, ziehe ihn an mich und streiche ihm über das Haar. Er schaut den Zügen nach. Er träumt davon, ein Floß zu bauen. Er will mit mir Bäume fällen, sie von den Ästen befreien und die Stämme zusammenbinden und damit so weit fahren, wie es nur geht. Er fragt mich, wohin der Fluss führe, und ich sage es ihm, und Judith erzählt mir, dass er sich alle Stationen gemerkt habe. Ich sage ihm nicht, dass wir nicht weit kämen, dass uns wahrscheinlich bald schon ein Wehr aufhalten würde, schlechtes Wetter oder ein Suchbefehl der Polizei. Unter den Büchern im Haus habe ich auch einen Atlas gefunden, und wenn wir ihn zusammen durchblättern und ich ihn frage, wo er am liebsten leben möchte, kann ich ihm noch so oft sagen, dass das nicht gehe, weil dort nur Wasser sei, er deutet unweigerlich auf eine Stelle mitten im Atlantik oder mitten im Pazifik, in das dunkelste Blau.
Ich mache mir natürlich nicht vor, dass das ewig so weitergehen kann. Die Spaziergänger habe ich schon erwähnt, die wieder aufgetaucht sind, sich ungeniert an der Grundstücksgrenze aufbauen und zu uns herüberspähen. Ich weiß nicht, ob es mehr geworden sind, seit der Junge bei mir ist, aber ich weiß, dass sie leichtes Spiel haben, wenn sie nur wollen. Es wäre diesmal zudem viel einfacher, eine Geschichte zu konstruieren, der ich endgültig nicht mehr entkommen könnte, ein Lehrer und ein Kind allein draußen am Fluss, noch dazu eines mit einer Unschuld und Hilflosigkeit ohnegleichen, aber so weit ist es noch nicht. Der Sommer hält sich, obwohl es nach dem Kalender die letzten Tage sind, kaum eine Ahnung von Herbst, aber der Boden zwischen den Bäumen ist trotzdem weich vom alten Laub. Ich mag es, darauf zu gehen, und der Junge folgt mir. Er bleibt mitten im Wald stehen, wenn ich stehenbleibe, und schaut lauschend zu den Wipfeln hoch, die sich im Wind bewegen, bevor er meinen Blick sucht und seinen Schritt wiederaufnimmt.
Über den Autor
Norbert Gstrein, geboren 1961, lebt in Hamburg. Bei Hanser erschienen die Romane Die Winter im Süden (2008), Die englischen Jahre (Neuausgabe 2008), Das Handwerk des Tötens (Neuausgabe 2010) und Die ganze Wahrheit (2010) sowie der Band mit frühen Erzählungen In der Luft (2011).
Weitere Kostenlose Bücher