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Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Eine blaßblaue Frauenhandschrift

Titel: Eine blaßblaue Frauenhandschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Hosenrolle springt aus dem Prunkbett der noch beleibteren Primadonna. Achtzehntes Jahrhundert. Die Primadonna, eine ältere Dame, ist melancholisch. Die Hosenrolle, durch jungenhaftes Geschlenker ihre äußerst weiblichen Formen betonend, bringt auf einem Tablett die Frühstücks-Schokolade. Widerlich, denkt Leonidas.
    Auf Zehenspitzen zieht er sich in den Hintergrund der Loge zurück. Dort sinkt er auf die rote Plüschbank. Er gähnt inbrünstig. Es ist alles glänzend abgelaufen. Die Sache mit Vera ist endgültig aus der Welt gescha. Ein unglaubliches Wesen, diese Frau. Sie hat mit keinem Wort insistiert. War ich selbst nicht, wieder einmal vom Teufel geritten, sentimental geworden, hätte ich nichts erfahren, nichts, und wir wären in tadelloser Haltung auseinandergegangen. Schade! Mir war wohler ohne Wahrheit! Kein Mensch kann zwei Leben leben. Ich wenigstens hab nicht die Kraft zu dem Doppelleben, das mir Amelie zutraut. Sie hat mich vom ersten Tag an überschätzt, die gute liebe Amelie. Schwamm drüber, es ist zu spät. Ich darf mir auch nie wieder solch taktlose Sentenzen genehmigen wie die mit der großen Revision. Was für eine Revision, zum Kuckuck! Ich bin weder Heraklit der Dunkle noch ein intellektueller Israelit, sondern ein öfentlicher Funktionär ohne Spruchweisheit. Werd ich es nicht endlich lernen, genau solch ein Esel zu sein wie alle anderen?! Man muß schließlich zufrieden sein. Man muß sich das Erreichte immer wieder zu Gemüte führen. In diesem schönen Hause sind die obersten Tausend versammelt, ich aber gehöre zu den obersten Hundert. Ich komme von unten. Ich bin ein Besieger des Lebens. Als mein armer Vater so früh starb, mußten wir, die Mutter und fünf Geschwister, von zwölundert Gulden Pension leben. Als drei Jahre später die arme Mutter starb, war auch die Pension nicht mehr da. Ich bin nicht untergegangen. Wieviele sind auf der Stufe des Hauslehrers bei Wormser steckengeblieben und haben nicht einmal den kühnen Traum verwirklicht, als Schulmeister eines Provinznestes im Honoratio renstübchen des Wirtshauses zu sitzen? Und ich!? Es ist doch ausschließlich mein Verdienst, daß ich mit nichts als einem ererbten Frack ein anerkannt reizender junger Mann war und ein famoser Walzertänzer, und daß Amelie Paradini darauf bestanden hat, mich zu heiraten, ausgerechnet mich, und daß ich nicht nur Sektionschef, sondern ein großer Herr bin, und Spittelberger, Skutecky und Konsorten wissen genau, ich bin auf den ganzen Krempel nicht angewiesen, sondern ein nonchalanter Ausnahmefall, und die Chvietickys und die Torre-Fortezzas, ältester Feudalsadel, lächeln herüber und grüßen zuerst und morgen früh im Büro werd ich die Anita Hojos anklingeln und mich zum Tee ansagen. – Eins aber möcht ich wissen, hab ich heut wegen des kleinen Jungen wirklich geweint oder bild ich’s mir nur ein, nachträglich …
    Immer schwerer stülpt sich die Musik über Leonidas. Mit langen hohen Noten fahren die Frauenstimmen gegeneinander. Monotonie der Übertriebenheit! Er schläft ein. Während er aber schläft, weiß er, daß er schläft. Er schläft auf der Parkbank. Ein schwacher Schauer von Oktobersonne besprengt den Rasen. In langen Kolonnen werden Kinderwagen an ihm vorbeigeschoben. In diesen weißen Gefährten, die über den Kies knirschen, schlafen die Folgen der Verursachungen und die Verursachungen der Folgen mit ausgebauchten Säuglingsstirnen, mit vorgewölbten Lippen und geballten Fäustchen ihren tief beschäftigten Kindheitsschlaf. Leonidas spürt, wie sein Gesicht immer trockener wird. Ich hätte mich für die Oper ein zweites Mal rasieren müssen. Das ist nun versäumt. Sein Gesicht ist eine große ausgedörrte Lichtung. Langsam verwachsen die Pfade, Karrenwege und Zufahrtstraßen zu dieser vereinsamten Lichtung. Sollte das schon die Krankheit des Todes sein, sie, die nichts andres ist als die geheimnisvoll logische Entsprechung der Lebens-Schuld? Während er unter der drückenden Kuppel dieser stets erregten Musik schläft, weiß Leonidas mit unaussprechlicher Klarheit, daß heute ein Angebot zur Rettung an ihn ergangen ist, dunkel, halblaut, unbestimmt, wie alle Angebote dieser Art. Er weiß, daß er daran gescheitert ist. Er weiß, daß ein neues Angebot nicht wieder erfolgen wird.
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