Die Hexe vom Niederrhein: Historischer Roman (German Edition)
Kapitel 1
- Entschuldigungen -
Sankt Tönis bei Crefeld , 17. Januar 1642
Zuversicht spricht aus seinen Augen . Das
Schlachtfeld scheint für einen Herzschlag stillzustehen, und die Schreie der Sterbenden
höre ich für diese eine Sekunde nicht mehr. Er nickt mir zu und grinst schelmisch.
Ich weiß, was er damit sagen will: Ich passe auf dich auf, kleiner Bruder. Seine
stahlblauen Augen funkeln in der Nachmittagssonne, und ich beginne seinem Blick
Glauben zu schenken. Dann dreht er seinen Kopf und die schwarzen, langen Haare fallen
ihm ins Gesicht. Sofort sind die Schreie wieder da, doch meine Angst nimmt ab. Der
stechende Geruch von Schwarzpulver hat sich wie ein Schleier über das Schlachtfeld
gelegt. Nebel umhüllt die Verletzten beider Seiten, sodass man nur erahnen mag,
wie viele Hunderte zwischen den beiden Heeren wohl liegen mögen und um ihr Leben
ringen. Mein älterer Bruder klammert sich an den Holzgriff der Muskete und überprüft
zum zigsten Male das Steinschloss der Waffe. Ich tue es ihm gleich und bemerke,
wie meine Atmung langsam regelmäßig wird. Der gefrorene Acker erstrahlt mit den
letzten Sonnenstrahlen in einem glitzernden Orange. Wären da nicht die Toten und
Verletzten, die Schreie und das Blut und diese greifbare, allgegenwärtige Angst,
hätte diese weiße Pracht fast etwas Harmonisches. Ich bebe am ganzen Leibe. Nicht,
weil der Schnee mittlerweile meine Kleidung durchnässt und die klirrende Kälte des
Winters sich tief in mich hineinfrisst. Nein, mein Zittern hat einen anderen Grund.
In wenigen Sekunden wird der Hauptmann der Kaiserlichen Armee das Signal zum Angriff
geben. Und obschon die Artillerie des französisch-schwedischen Verbundes bereits
tiefe Furchen in unsere Reihen geschlagen hat und obschon die hessischen Söldner
eine Angriffswelle nach der anderen gegen unsere Flanken schlagen, will der Kaiserliche
General Lamboy mitten durch das feindliche Zentrum brechen. Beflügelt von seinen
vergangenen Siegen, will er nun den französischen Marschall Guébriant stellen. Hier
und jetzt. Nur er scheint noch zu glauben, dass die Lage nicht aussichtslos ist.
Den ganzen Tag lang ist dieser von Gott verlassene Acker schon Schauplatz verschiedener
Scharmützel. Nun, da es dämmert, steht die entscheidende Schlacht bevor. Beide Hauptkampfgruppen
stehen keine 400 Fuß auseinander. Ich kann die Angst meiner Feinde spüren, und doch
empfinde ich kein Mitleid für sie. Immerhin waren sie es, die Anspruch auf unser
Land stellten. Doch welche Wahl obliegt schon einem Partisanen, der nur das beschützen
wollte, was er Heimat nennt? Welche Wahl obliegt schon einem Schmied, der dem Ruf
seiner Stadt gefolgt ist und sich nun an vorderster Front wiederfindet? Die einzige
Wahl, die uns jetzt noch bleibt, ist, ob wir rennend und schreiend vom Feind erschossen
und aufgespießt werden oder ob das unsere eigenen Unteroffiziere erledigen. Sie
wachen lauernd hinter uns und würden mit ebenso kalter und erbarmungsloser Hand
Deserteure und Feiglinge bestrafen. Ich spüre, wie sich ihr Blick in meinen Rücken
brennt, und traue mich nicht einmal, mich für eine Sekunde umzuschauen. Reih an
Reih stehen wir zusammen und warten auf das Signal zum Marschieren. Mann an Mann
zittern wir in dieser eisigen Kälte, wohl wissend, dass die nächsten Atemzüge unsere
letzten sein könnten.
»Ruhig, Männer! Die Linien halten!«, brüllen uns
die Unteroffiziere zum Gehorsam an. Doch die Befehle und ermutigenden Worte der
Soldaten finden bei mir kein Gehör. Mein Geist will einfach nicht zur Ruhe kommen
und mein Körper zittert wie das letzte Blatt an einem Baum, das sich mit aller Kraft
dagegen wehrt, vom Wind abgerissen zu werden. Ein weiteres Mal blickt mein Bruder
zu mir.
»Ruhig, Lorenz! Einfach die Linie halten!« Seine Ermunterung allerdings verfehlt ihre Wirkung nicht. Ich nicke ihm zu. Ein kurzes,
dankbares Nicken, das mehr zu sagen vermag als alle gesprochenen Worte. Mein Blick
fällt auf den schmächtigen, rothaarigen Jungen, den wir alle nur ›Ratte‹ nennen,
und auf Jakob den Hünen, der aus der Linie hervorsticht. Ich bin froh, sie meine
Freunde nennen zu dürfen, und bete, dass auch sie den Tag überleben werden.
»Jetzt geht es los«, flüstert Jakob ohne Stimme.
Der Hauptmann geht ein paar Schritte vor, sein schneller Atem ist deutlich
sichtbar und lässt ihn durch eine weiße, sofort wieder verschwindende Wolke schreiten.
Mithilfe von Flaggen hat General Lamboy seinen Offizieren den Befehl
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