Eine Trillion Euro
Eine Trillion Euro
von Andreas Eschbach
Ihr Schiff stieg knirschend an, immer höher, bis das Eis endlich mit einem Knall unter dem Kiel zerbarst. Die Schollen glitten am Rumpf entlang davon, mutlos klackernd, weiß, klein, irgendwie jungfräulich anmutend. Gleich darauf hob sich der Boden unter ihren Füßen aufs Neue, stemmte der Bug sich gegen die nächsten Meter Eis, immer wieder und wieder. Die Eisschicht, gegen die sie ankämpften, war nicht besonders dick, nicht um diese Jahreszeit und nicht auf diesem Breitengrad. Aber sie war eben da.
Manchmal, wenn er am Ruder stand und gegen die Welt ringsum ansteuerte, den Blick unverwandt auf Kompass und GPS gerichtet, exakt dem vereinbarten, verzweifelten Kurs folgend, war ihm, als könne er sich gleichzeitig von weit, weit oben sehen, als sei er ein gewaltiges Auge, groß wie der Himmel, das herabsah auf einen endlosen Ozean und ein lächerliches Schiff, das in einer lächerlichen Anstrengung zu verhindern versuchte, dass dieser Ozean zufror. Ein kleiner schwarzer Punkt, der eine dunkle, schaumige Spur durch das harte Weiß zog, die sich nur zu bald in neuem Frost verlor. Einige Meilen weiter ein zweiter Punkt, und noch einer, und ansonsten nur Eis, endlos und unerbittlich. Hatten sie eine Chance, das Schicksal zu wenden? Sie hatten keine.
Auf dem Vorderdeck ging einer der Maschinisten mit einem Eimer umher und sammelte Eisbrocken, die an Bord geschlendert worden waren. Er hatte wolliges, rotblondes Haar und einen Vollbart, hieß Sven und sah aus wie ein Wikinger, den es ins 21. Jahrhundert verschlagen hatte. Nachher würde er den Eimer an ein warmes Plätzchen im Maschinenraum stellen, warten, bis das Eis geschmolzen war, und mit dem Wasser einen Sud kochen, nach dem alle an Bord verrückt waren. Eiszeitkaffee nannte er das.
Denn abgesehen von jenen minimalen Beimengen salzigen Meerwassers, die dem Kaffee sein besonderes Aroma verliehen, bestand das Eis, das sie brachen, aus Süßwasser. Genau das war das Problem.
Von Jahr zu Jahr hatte die Zahl der Unwetter in Europa zugenommen. Stürme nie gekannten Ausmaßes waren über den alten Kontinent hinweggefegt, eine Jahrhundertflut hatte die nächste an Verheerung übertroffen, das Wetter war außer Rand und Band geraten. Es gab wilde Jahre und milde Jahre, aber generell war nichts mehr so, wie es einst gewesen war. Hagelschläge von kaum glaublicher Zerstörungskraft vernichteten die Obsterträge ganzer Landstriche, überraschend einbrechende, bitterkalte Fröste ruinierten Salatplantagen in Gegenden, in denen es dergleichen nicht einmal der Sage nach je gegeben hatte. Nach einem halben Jahrhundert des Wohlergehens, ja des Überflusses wurden Missernten wieder zu einem ernsten Problem, kehrte das Gespenst des Hungers nach Europa zurück.
Ursache all dessen war ein sich seit mehreren Jahrzehnten abzeichnender Klimawandel hin zu globaler Erwärmung. Während die Gelehrten noch stritten, was diesen Wandel verursachte, ob die industriellen Aktivitäten der Menschheit ihn ausgelöst hatten oder zumindest zu ihm beitrugen oder ob er selbst dann stattgefunden hätte, wenn sie bärenfellgewandet in ihren Höhlen sitzen geblieben wäre, manifestierten sich überall auf Erden die Folgen. Zweifelsfrei messbar wurde der Effekt zuerst in klimatisch extremen Gegenden. Auf kalten Labradorinseln beobachteten Vogelforscher, dass der Frühling von Jahr zu Jahr ein oder zwei Tage früher begann. In Sibirien tauten Böden auf, die jahrhundertelang im Permafrost erstarrt gelegen hatten. In heißen Regionen Afrikas verschwanden Seen, die Kartographen seit Menschengedenken als feste Bezugspunkte gedient hatten.
Europa jedoch würde die globale Erwärmung paradoxerweise eine neue Eiszeit bescheren.
Rein von seiner geographischen Lage her müsste Europa nämlich eigentlich ein kalter, unwirtlicher Kontinent sein. Irland und Großbritannien liegen auf denselben Breitengraden wie die Bering-See, die Alaska und Ostsibirien miteinander verbindet. Deutschland ließe sich, über den Globus verschoben, mit der kanadischen Provinz Manitoba zur Deckung bringen, in der viel Wald und wenig Weizen wächst und ganz bestimmt kein Riesling. Berlin liegt nördlicher als das ostsibirische Komsomolsk, Florenz nördlicher als Wladiwostok, und Hamburg ist seinem Pol so nahe wie die Feuerlandinseln dem ihren. Norwegen und Finnland liegen auf denselben Breitengraden wie Südgrönland, das von ewigem Eis bedeckt ist.
Dass Europa es nicht ist, verdankt es
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