Eisprinzessin
nicht, warum keine Vermisstenanzeige aufgenommen wurde. Aber es gab keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen oder für eine Gefährdung der verschwundenen Person, etwa aufgrund gesundheitlicher Probleme. Bei den groß angelegten Suchaktionen, die die Leute über die Medien mitbekamen, ging es eigentlich immer um vermisste Kinder, Jugendliche oder um alte Menschen, die aus Heimen weggelaufen und hilflos waren. Aber jeder Erwachsene durfte seinen Aufenthaltsort selbst bestimmen und war seinen Angehörigen keine Rechenschaft darüber schuldig. Ein Weggehen oder Aussteigen aus dem bisherigen Leben war noch kein Anlass für polizeiliche Ermittlungen. Trotzdem glaubten Angehörige immer, dass die vermisste Person sich entweder etwas angetan haben musste oder dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen war. Denn selbst diese Vorstellung schien leichter zu ertragen als ein geplantes, absichtsvolles Verschwinden. Dass der Vermisste einem so etwas antat, durfte einfach nicht sein.
»Wann haben Sie Ihre Frau denn zum letzten Mal gesehen?«, fragte Brunner.
»Am Montagmorgen«, sagte Eberl. »Wir haben wie immer zusammen gefrühstückt, dann ist sie ins Büro gefahren.«
»Sie ist vor Ihnen aus dem Haus gegangen?«
»Ja, sie wollte schon um halb acht bei der Arbeit sein und irgendetwas vorbereiten. Ein Seminar oder so.«
»Und wann haben Sie das Haus verlassen?«
»Eine halbe Stunde später.«
»Ist Ihre Frau mit dem Wagen zur Arbeit gefahren?«
»Nein, mit dem Fahrrad. Wenn’s nicht regnet oder friert, fährt sie immer mit dem Rad.«
»Und das Fahrrad ist auch weg?«
Eberl nickte.
»Herr Eberl«, fragte Brunner, »hat Ihre Frau vielleicht einen Freund? Eine Affäre? Könnte es da was in die Richtung geben?«
»Charlotte?« Eberl lächelte, als könnte es nichts Absurderes geben, als dass seine Frau fremdging.
»Soll ja in den besten Familien vorkommen«, sagte Brunner.
»Wir müssen Sie das fragen«, sagte Meißner.
»Ich liebe meine Frau«, sagte Eberl, »und sie liebt mich.«
Wunderbar, dann ist ja alles klar und die Welt in bester Ordnung, dachte Meißner.
Meißner musste wegen seines Termins die Fortführung des Gesprächs Brunner überlassen. Eberl wirkte gekränkt und in sich zurückgezogen, als Meißner sich verabschiedete. Sein Kummer war für ihn das Wichtigste, er konnte nicht verstehen, dass er nicht automatisch zum Kummer der gesamten Welt wurde. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass gleich einige Hundertschaften der Bereitschaftspolizei ausrückten. Sollte Brunner ihm doch erklären, dass er damit nicht rechnen konnte. Auch Kollege Brunner war ein Mensch, wenn auch nicht der sympathischste. Vielleicht entpuppte er sich ja doch noch als sensibler Beamter, der wusste, wie man mit so einem wie Eberl, dem möglicherweise gestern die Frau weggelaufen war, umging.
Meißner packte seine Unterlagen zusammen. Er sollte als Zeuge in einem Strafverfahren wegen Raubes und gefährlicher Körperverletzung aussagen, und das Amtsgericht war nur einen Katzensprung vom Präsidium entfernt. Auf dem kurzen Fußweg von der Esplanade zur Harderstraße kamen ihm erst drei Frauen mit Kinderwägen entgegen, dann sah er zwei mit Kleinkindern und eine hochschwangere auf der anderen Straßenseite. Was war denn heute bloß los? Oder war das immer so, und nur heute fiel es ihm besonders auf? Die wunde Stelle des Verlierers eines Vaterschaftstests. Er lief über die Harderstraße hinüber zum Kaisheimer Haus. Das dreigeschossige Eckhaus mit seinen beiden Erkertürmen, auf denen neckisch zwei Zwiebelhäubchen saßen, war ein ehemaliges Stadtpalais der Fugger. Wie die halbe Altstadt stand es unter Denkmalschutz.
Nach seinem Termin schaute Meißner auf einen Sprung im Stadtcafé am Franziskanerplatz vorbei. Er hielt nach seiner alten Freundin Kirsti Ausschau, die hier als Bedienung arbeitete, aber anscheinend hatte sie ihren freien Tag. Eigentlich schade, denn mit irgendjemand Neutralem musste er einmal über die Sache mit Carola reden. Wann immer ihm die Szene am Baggersee einfiel, und das geschah ziemlich häufig, packte ihn eine Art kopflose Hysterie. Er würde Kirsti in den nächsten Tagen anrufen oder einfach wieder im Café vorbeischauen. Nein, lieber anrufen und dann zu ihr rausfahren, wenn sie immer noch draußen in Oberstimm wohnte. Als Single in Oberstimm. Er stellte sich das grausam vor.
Brunner telefonierte, als Meißner ins Präsidium zurückkam. Meißner fragte den Kollegen, wie die Vermisstensache denn nun ausgegangen
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