Engel aus Eis
Annika in eine Ecke seines Büros gestellt hatte. Ernst gehorchte widerwillig, trottete in sein Körbchen, legte den Kopf auf die Pfoten und blickte sein zeitweiliges Herrchen gekränkt an. Bertil Mellberg empfand eine seltsame Befriedigung darüber, dass ihm ausnahmsweise jemand gehorchte. Von dieser Autorität bestärkt, raste er durch den Flur und rief laut: »Ein Leichenfund wurde gemeldet.«
Drei Köpfe wurden aus ebenso vielen Türen gestreckt, der rote von Martin Molin, der graue von Gösta Flygare und der pechschwarze von Paula Morales.
»Eine Leiche?« Martin betrat den Flur als Erster. Nun näherte sich auch Annika vom Empfang.
»Ein Jugendlicher hat gerade bei mir angerufen und es mir erzählt. Die Bengel sind offenbar in ein Haus zwischen Fjällbacka und Hamburgsand eingedrungen und haben dort eine Leiche entdeckt.«
»Der Besitzer des Hauses?«, fragte Gösta.
Mellberg zuckte die Achseln. »Mehr weiß ich auch nicht. Ich habe den Jungs gesagt, sie sollen dort warten, wir kommen sofort. Martin und Paula nehmen das eine Auto, Gösta und ich das andere.«
»Sollten wir nicht lieber Patrik anrufen …?«, fragte Gösta zaghaft.
»Wer ist Patrik?«, fragte Paula und blickte von Gösta zu Mellberg.
»Patrik Hedström arbeitet auch hier, aber er nimmt ab heute Erziehungsurlaub«, erklärte Martin.
»Wir brauchen doch Hedström nicht anzurufen.« Mellberg schnaufte beleidigt und fügte großspurig hinzu: »Ich bin schließlich auch noch da« und machte sich schnurstracks auf den Weg zur Garage.
»Juchhu«, murmelte Martin, als Mellberg außer Hörweite war. Paula hob fragend eine Augenbraue. »Ach, nichts«, entschuldigte sich Martin, konnte sich aber nicht verkneifen hinzuzufügen: »Bald wirst du verstehen, was ich meine.«
Paula wirkte noch immer verwirrt, ließ die Sache jedoch auf sich beruhen. Die zwischenmenschliche Dynamik an ihrem neuen Arbeitsplatz würde sie noch früh genug durchschauen.
Erica seufzte. Jetzt war es still im Haus. Zu still. Seit einem Jahr waren ihre Ohren stets auf das leiseste Jammern oder den nächsten Schrei eingestellt. Die ungewohnte Ruhe wirkte dagegen geradezu trostlos. Der Cursor blinkte in der ersten Zeile des WordDokuments. Kein läppisches Zeichen hatte sie in der vergangenen halben Stunde zustande gebracht. In ihrem Hirn herrschte absolute Flaute. Sie hatte nur in ihren Notizen und den Artikeln geblättert, die sie den Sommer über kopiert hatte. Nach mehreren Briefen war es ihr endlich gelungen, mit der Hauptperson des Falls, der Mörderin, einen Termin zu vereinbaren, aber der fand erst in drei Wochen statt. Bis dahin musste sie sich mit dem Archivmaterial begnügen. Das Problem war nur, dass dabei nichts herauskam. Ihr fielen einfach nicht die richtigen Worte ein, und nun kamen auch noch die Zweifel hinzu, mit denen sich alle Schriftsteller plagten. Waren keine Worte mehr übrig? Hatte sie ihren letzten Satz geschrieben, ihr Soll erfüllt? Würde sie nie wieder ein Buch schreiben? Ihr Verstand sagte ihr, dass sie mit diesem Gefühl am Anfang immer zu kämpfen hatte, aber das nützte nichts. Diese Qualen musste sie jedes Mal durchstehen. Es war so ähnlich wie bei einer Geburt. Heute lief es besonders zäh. Zum Trost steckte sie sich einen Dumlekola-Bonbon in den Mund und warf einen verstohlenen Blick auf die blauen Notizbücher, die neben dem Computer lagen. Die flüssige Handschrift ihrer Mutter gierte nach ihrer Aufmerksamkeit. Erica war hin- und hergerissen zwischen der Angst, ihrer Mutter zu nahezukommen, und ihrer Neugier. Zögerlich griff sie nach dem ersten Buch und wog es in der Hand. Es war ein dünnes Buch. So ähnlich wie die kleinen Notizbücher, die in der Grundschule üblich waren. Erica strich mit den Fingern über den Buchdeckel. Der Name war mit Tinte geschrieben, aber mit der Zeit war die blaue Farbe verblasst. Elsy Moström lautete der Mädchenname ihrer Mutter. Den Namen Falck bekam sie erst, als sie Ericas Vater heiratete. Langsam öffnete sie das Buch. Die Seiten waren zartblau liniert. Ganz oben stand ein Datum: »3. September 1943«. Sie las die erste Zeile:
»Hört dieser Krieg denn nie auf?«
Fjällbacka 1943
H ört dieser Krieg denn nie auf?«
Elsy kaute an ihrem Stift und überlegte, was sie schreiben sollte. Wie ließen sich ihre Gedanken über diesen Krieg zusammenfassen, der zwar woanders stattfand, aber doch auch hier war? Es war so ungewohnt, Tagebuch zu schreiben. Sie wusste nicht, wie sie auf die Idee gekommen war,
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