Erbarmen
Bitte würde Hardy noch bereuen, wenn er mit den Realitäten des Lebens konfrontiert wurde.
Schon nach wenigen Sekunden war Carl klar, dass er recht behalten würde.
Als Minna Henningsen die Tür öffnete, hörte er das Lachen einer lustigen Gesellschaft von sechs Frauen. Sie waren in lebhafte Farben gekleidet, trugen kecke Hüte und hatten wilde Pläne für den Rest dieses Tages. Damit ließen sich Hardys Erwartungen unmöglich vereinbaren.
»Carl, heute ist der 1. Mai! So etwas machen wir Frauen in unserem Club doch immer. Kannst du dich denn nicht erinnern ?« Als sie ihn mit sich in die Küche zog, nickte er ein paar von ihnen zu.
Er brauchte nicht lange, um ihr die Situation zu schildern.
Zehn Minuten später stand er wieder auf der Straße. Sie hatte seine Hand gehalten und ihm erzählt, wie schwer sie es hatte, wie sehr sie ihr altes Leben vermisste. Dann hatte sie ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und ein bisschen geweint. Dabei hatte sie ihm zu erklären versucht, warum sie nicht die Kraft habe, Hardy zu pflegen.
Als sie ihre Augen getrocknet hatte, fragte sie ihn mit einem vorsichtigen, verlegenen Lächeln, ob er nicht Lust hätte, mal an einem Abend vorbeizukommen und mit ihr zu essen. Sie sagte, sie bräuchte jemand, mit dem sie reden könnte, aber der Sinn hinter den Worten war so unverhüllt und direkt, wie es überhaupt nur denkbar war.
Unten am Strandboulevard schlug ihm der Lärm vom Stadtpark entgegen. Da war richtig was los.
Er überlegte, ob er für eine Weile hingehen und ein Bier trinken sollte, um der Erinnerungen willen. Aber dann setzte er sich doch ins Auto.
Wäre ich nicht so scharf auf Mona Ibsen, diese blöde Psychologin, und wäre Minna nicht mit meinem gelähmten Freund Hardy verheiratet, dann würde ich ihre Einladung annehmen, dachte er. Da klingelte sein Handy.
Assad war dran, und er klang aufgeregt.
»Hallo, Assad, nun mal langsam. Bist du immer noch im Büro? N ach mal, was sagst du da?«
»Die haben vorhin vom Rigshospital hier angerufen und dem Chef Bescheid gesagt. Ich hab es gerade von Lis gehört. Sie haben Merete Lynggaard aus ihrem Koma aufgeweckt.«
Carls Blick glitt in irgendeine Ferne. »Wann war das?«
»Heute Vormittag. Ich dachte mir, dass du das gern wissen willst.«
Carl bedankte sich, unterbrach die Verbindung und starrte die Bäume an, deren hellgrüne Äste so voller frühlingshaftem Leben aufragten. Eigentlich müsste er aus tiefstem Herzen froh sein, aber er war es nicht. Vielleicht würde Merete für den Rest ihres Lebens dahinvegetieren. Nichts im Leben war einfach. Nicht einmal der Frühling dauerte an, und das zu erleben gehörte mit zu den schmerzlichsten Erfahrungen. Ja, bald wird es wieder früh dunkel werden, dachte er und hasste sich selbst für seinen Pessimismus.
Er sah noch einmal hinüber zum Stadtpark und dem grauen Klotz des Rigshospitals, der dahinter hoch aufragte.
Dann stellte er zum zweiten Mal seine Parkscheibe ein und machte sich auf den Weg durch den Park zum Krankenhaus. Die Leute saßen mit ihren Bierdosen auf der Wiese, und eine Großbildleinwand verbreitete Jytte Andersens Abschiedsrede bis hinüber zur Freimaurerloge. »Neustart für Dänemark« war der Slogan des diesjährigen Festes zum 1. Mai.
Als ob das helfen würde.
Damals, als er und seine Freunde jung waren, trugen sie kurzärmelige T-Shirts und waren dünn wie Schnaken. Heute war die versammelte Fettmasse um ein Zwanzigfaches höher. Denn heute war eine Bevölkerung zu den traditionellen Protestveranstaltungen anlässlich des 1. Mais gekommen, die vor Selbstzufriedenheit nur so strotzte. Die Regierung hatte den Menschen ihr Opium gegeben: billige Zigaretten und billigen Schnaps und darüber hinaus alles in allem nichts Halbes und nichts Ganzes. Wenn die Leute dort auf dem Rasen nicht einer Meinung mit der Regierung waren, war das nur ein vorübergehendes Problem.
Ja, die Situation war unter Kontrolle.
Eine Gruppe Journalisten wartete bereits im Zwischengang.
Als sie Carl aus dem Aufzug kommen sahen, drehten sich alle in seine Richtung. Jeder wollte seine Frage stellen.
»Carl Mørck«, rief einer von denen ganz vorn. »Wie beurteilen die Ärzte Merete Lynggaards Schädigungen des Gehirns? Wie schwer sind sie? Wissen Sie etwas darüber?«
»Hat Herr Vizepolizeikommissar Mørck Merete Lynggaard schon einmal besucht?«
»Hallo Mørck! Wie beurteilen Sie selbst den Job, den Sie da gemacht haben? Sind Sie stolz auf sich?«, kam es von der Seite. Er
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