Erbarmen
bewusst zu machen, wie viel Glück er gehabt hatte. Immerhin lebte er noch. Nur zwei Zentimeter weiter rechts, und auch Anker wäre noch am Leben. Nur ein Zentimeter weiter links, und es hätte ihn erwischt. Läppische Zentimeter, die ihn von dem Weg zwischen den Feldern und dem Friedhof trennten.
Carl Mørck wollte das alles gern rational verarbeiten, aber das war schwer. Vom Tod wusste er nicht viel. Nur, dass er so unvorhersehbar war wie ein Blitzschlag. Und unendlich still, wenn er eingetreten war.
Aber wie gewalttätig Sterben sein konnte und wie sinnlos, darüber wusste er alles.
Das erste Mordopfer in seiner Laufbahn brannte sich in Carls Netzhaut ein. Gerade mal zwei Wochen nach Abschluss der Polizeischule war das gewesen. Da lag klein und zart vor ihm eine Frau, erwürgt von ihrem eigenen Mann. Die stumpfen Augen und ihr Gesichtsausdruck verfolgten Carl über Wochen. Seither waren ungezählte Fälle dazugekommen. Jeden Morgen hatte er sich innerlich gewappnet und sich vorgestellt, was ihn wieder erwarten würde: blutige Kleidung, wachsbleiche Gesichter, eiskalte Fotos. Jeden Tag hatte er sich die Lügen der Menschen angehört und ihre sinnlosen Entschuldigungen. Jeden Tag ein anderes Verbrechen, jeden Tag neue Methoden. Fünfundzwanzig Jahre bei der Mordkommission der Kriminalpolizei härteten ab. Hatte er gedacht.
Bis zu jenem Tag. Da stand er einem Fall gegenüber, der seinen Panzer durchdrang.
Man hatte ihn, Anker und Hardy nach Amager geschickt. Über einen holperigen Schotterweg waren sie zu einer verfallenen Baracke gefahren.
Dort sollte eine Leiche ihre Geschichte erzählen. Wie so oft hatte der Gestank einen Nachbarn aufmerksam gemacht. Wieder so einer, der ganz für sich gelebt hatte und in seinem eigenen Müll sein alkoholisiertes Leben aushauchte. Das hatte man geglaubt, bis man den Nagel entdeckte. Ein Druckluftnagler hatte ihn dem Toten in den Schädel geschlagen. Wegen dieses Nagels war die Mordkommission der Kopenhagener Polizei eingeschaltet worden.
An jenem Tag war Carls Team an der Reihe. Weder er noch seine beiden Assistenten hatten Einwände, auch wenn sich Carl wie gewöhnlich über den Arbeitsdruck aufregte und über das langsame Tempo der anderen Teams. Aber wer hatte ahnen können, dass dieser Fall dermaßen fatal enden sollte? Dass kaum fünf Minuten, nachdem sie in den Leichengestank eingetreten waren, Anker in einer Blutlache am Boden liegen und Hardy seine letzten Schritte gegangen sein würde. Und in Carl das Feuer erloschen war, das er so unbedingt brauchte, um seinen Job bei der Kopenhagener Mordkommission zu machen.
Kap 2 - 2002
Die Presse liebte sie: Sie liebte Merete Lynggaards scharfzüngige Redebeiträge im Parlament und ihren Mangel an Respekt gegenüber dem Staatsminister und seinen Abnickern. Sie liebte die stellvertretende Vorsitzende der Demokratischen Partei für ihre Weiblichkeit, für ihren übermütigen Blick und die verführerischen Grübchen in den Wangen. Sie liebte sie für ihre Jugend und ihren Erfolg. Aber vor allem liebte sie Merete Lynggaard, weil sie Spekulationen Raum bot. Warum zeigte sich eine so begabte und attraktive Frau nie öffentlich mit einem Mann? Merete Lynggaard machte Auflage. Lesbisch oder nicht, sie war immer guter Stoff für die Presse.
Das alles wusste Merete nur zu genau.
»Kannst du dich denn nicht mal mit Tage Baggesen verabreden ?«, fragte ihre Assistentin zum wiederholten Mal. Auf dem Weg zu Meretes Auto balancierten sie vorsichtig um die Pfützen auf dem Abgeordnetenparkplatz. » Klar, ich weiß schon, dass er nicht der Einzige ist, aber der ist total verrückt nach dir. Wie oft hat er inzwischen versucht, dich einzuladen? Hast du dir überhaupt je die Mühe gemacht, die Zettel zu zählen, die er dir auf den Tisch legt? Hast du den von heute schon gesehen? Gib ihm doch eine Chance, Merete.«
»Warum nimmst du ihn nicht?« Merete schloss ihren kleinen blauen Audi auf und deponierte die Akten auf dem Rücksitz. »Was soll ich mit dem verkehrspolitischen Sprecher der Radikalen Centrumspartei, Marion? Kannst du mir das mal sagen? Bin ich vielleicht scharf auf Kreisverkehr in Herning?«
Als Merete sich aufrichtete, sah sie vor dem Spielzeugmuseum einen Mann im hellen Trenchcoat, der gerade das Gebäude fotografierte. Oder hatte er sie fotografiert? Sie schüttelte den Kopf. Dieses Gefühl, permanent unter Beobachtung zu stehen, ärgerte sie inzwischen. Das war doch paranoid. Sie musste zusehen, so schnell wie
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