Erwartung: Der Marco-Effekt Der fünfte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q (German Edition)
ihm in nur zwanzig oder dreißig Metern Entfernung, sodass René seine Schritte beschleunigte.
Vor ihm lagen noch drei oder vier enge Gassen wie diese, die jedoch zu einer der breiten Avenidas führten, er musste also einfach das Tempo halten.
Jetzt kam es ihm auf einmal so vor, als habe er den Mann schon einmal gesehen. Hatte er nicht hinter dem Tresen gestanden, als René auf der Polizeiwache eine Zeugenaussage gemacht hatte wegen eines kleineren Verkehrsunfalls auf der Calle Marino? Hatte man ihn also aufgespürt – trotz all seiner Vorkehrungen? Bei diesem Gedanken lief es ihm eiskalt über den Rücken.
Jetzt rannte René, dem das morgendliche Joggen am Strand und ein personalisiertes Fitnesstraining eine für sein Alter und die jahrelange physische Untätigkeit erstaunliche Kondition verschafft hatte. Deshalb gelang es ihm auch, seinen Verfolger abzuschütteln und sich in eine weitere Gasse zurückzuziehen. Sicherheitshalber wartete er noch eine Weile hinter einem Stapel Pappkartons, wo er beschloss, den Besuch bei Yosibell in Choroni Beach zu überspringen und sich bereits am Abend in ein Flugzeug nach Süden zu setzen.
Als er sich sicher war, dass der Mantelträger ihn in dem Gewirr der Gassen verloren hatte, und er hinter den Kartons hervortrat, stand der Typ am Ende der schmalen Straße und zielte mit einer Pistole auf ihn.
Alles in René suchte fieberhaft nach einer Lösung. Und die lag eigentlich auf der Hand: Polizisten wurden kümmerlich entlohnt, und René hatte die Mittel, dem Elend abzuhelfen. Deshalb näherte er sich dem Mann in der Absicht, ihm einen Deal zum beiderseitigen Vorteil anzubieten.
Aber er kam gar nicht dazu, dem Mann seinen Vorschlag zu unterbreiten, denn der forderte ihn rüde auf, ihm seine Uhr auszuhändigen.
René stutzte. War er etwa vor einem simplen Ganoven geflohen? Ging es nur darum? Mit schlecht verhohlenem Ärger löste er die Uhr von seinem Handgelenk. Das Schwein ahntnicht mal, dass es nun im Besitz von etwas ist, das es nur zehn weitere Male auf der Welt gibt, dachte René. Mochte es ihm zum Fluch werden.
»Und die Tüte«, sagte der Mann und deutete mit der Pistole auf die elegante Tragetasche des Juwelierladens, in der Renés alte Tag Heuer lag.
Er reichte ihm auch diese.
»Und dein Portemonnaie.«
Verflucht, dachte René, nun wird es aber lästig. Wenn er jetzt Zeit damit verbringen musste, Karten sperren zu lassen und auf neue zu warten, dann würde sich der Aufenthalt hier unnötig in die Länge ziehen.
»Mach schon«, sagte der Kerl, und sah genau hin, als René seine Hand in die Innentasche steckte und die Brieftasche aus Krokodilleder hervorzog.
Der Mann klappte sie auf und stellte zufrieden fest, dass darin sowohl Kreditkarten als auch ziemlich viele Bolívars und Dollars steckten.
Dieser Scheißkerl. Stand da und lächelte ihn an. Ohne die Pistole hätte René ihn genauso erledigt wie damals Brage-Schmidts schwarzen Sklaven.
»Und nun dein Handy.«
Nein, verdammt. Jetzt reichte es.
»Tut mir leid, ich habe keins.«
Der Kerl schaute skeptisch.
»Komm, mach schon, gib her.«
»Noch mal: Ich habe keins. Ich habe dir alles andere gegeben. Wenn ich ein Handy hätte, würde ich es dir auch geben. Ich bin doch nicht blöd.«
Da klopfte ihn der Mann gründlich ab, die Jackentaschen und seine vorderen Hosentaschen, aber nicht die hintere, in der das Handy steckte.
»Okay, du hast kein Handy«, sagte er. Dann zog er sich einen Schritt zurück und blieb einen Moment stehen, als wollteer schießen. Doch stattdessen grinste er zahnlos. »Du warst kooperativ, deshalb kommst du mit dem Leben davon. Das gilt nicht für alle.«
Mit diesen Worten ging er. Als er ans Ende der Gasse kam, steckte er die Pistole in die Tasche und verschwand um die Ecke.
In diesem Augenblick klingelte Renés Handy.
Blitzschnell griff René in die Tasche und schaltete es auf stumm. Dann drehte er sich weg und hielt es ans Ohr.
»Hey, Richard, Yosibell hier. Das Wasser ist glasklar, und meine Haut ist ganz feucht. Wann kommst du?«
Er wollte ihr antworten, dass es noch etwas dauern würde, aber dazu kam er nicht.
»Soso, du hast also kein Handy, sagst du!«, rief der Mann vom Ende der Gasse und näherte sich im Laufschritt.
René sah über die Schulter, wie der Typ wenige Meter von ihm entfernt stehen blieb. Sein Herz hämmerte, als er sich umdrehte und seinem Gegner in die Augen starrte. Die wirkten vollkommen ruhig, beinahe friedlich – genau wie die Hand mit der Pistole,
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