Fahr zur Hölle Mister B.
Ihnen reden, so wie in diesem Augenblick.
Ich wollte nur, dass Sie dieses Buch verbrennen. Ist das so viel verlangt? Und bevor Sie es aussprechen: Ich weiß. Ich selbst war mein größter Feind, weil ich Ihnen diese Lügen aufgetischt habe. Ich hätte die Worte in alle Himmelsrichtungen zerstreuen müssen, damit kein einziger Satz mehr einen Sinn ergibt, außer meiner Bitte, das Buch zu verbrennen. Dann hätten Sie es vielleicht getan.
Aber es war so lange her, dass die Augen eines Lesers, der sich eine Geschichte erzählen lassen wollte, auf mich geblickt hatten. Und ich hatte eine Geschichte mitzuteilen: die meines Lebens. Und ich konnte sie keinem anderen erzählen als Ihnen. Doch je mehr ich erzählte, desto mehr wollte ich erzählen, und je mehr ich erzählen wollte, desto mehr erzählte ich auch.
Ich war innerlich zerrissen: Ein Teil von mir wollte meine Lebensgeschichte berichten, der andere Teil wollte frei sein.
Oh ja, frei.
Und diese Freiheit hätte ich erlangt, hätte ich mein Spiel besser gespielt und Sie davon überzeugt, diese unwürdigen Buchseiten in Brand zu stecken, damit sie in Rauch aufgehen.
Und in diesem Rauch wäre ich aufgestiegen und von den Worten befreit gewesen, in denen ich gefangen bin. Ich gab mich nicht der Selbsttäuschung hin, dass mich ein Körper aus Fleisch und Blut erwartete. Der war für immer dahin. Aber ich redete mir ein, dass ich den Sinn des Lebens verstehen könnte. Alles wäre besser gewesen als das Gefängnis zwischen diesen Buchdeckeln.
Aber nein. Sie sind auf keinen meiner Tricks hereingefallen. Dabei habe ich jede Arglist und Täuschung angewandt, wie aus dem Lehrbuch, sozusagen. Jede Strategie, die ich kannte.
Wissen Sie, wie das Böse arbeitet? Haken Sie einfach die Liste der Versuche ab, mit denen ich Sie bewegen wollte, dieses Buch zu verbrennen. Die Verführung (das Haus mit dem Baum); die Drohungen (dass ich Ihnen mit jeder umgeblätterten Seite näher komme); die Appelle an Ihre Barmherzigkeit, Ihre Güte, Ihr Mitgefühl. Sie alle waren natürlich vergebens. Hätte eines davon funktioniert, wären wir jetzt nicht hier.
Stattdessen bin ich noch da, wo Sie mich gefunden haben, und mir bleibt nur die Hoffnung, dass eines Tages ein anderer zu diesem Buch greift und es aufschlägt, um es zu lesen. Bis dahin habe ich mir vielleicht eine bessere Falle ausgedacht. Etwas Narrensicheres. Etwas, das meine Flucht garantiert.
Vielleicht könnten Sie mir dabei wenigstens ein klein wenig helfen? Immerhin habe ich Sie gut unterhalten, oder nicht? Also tun Sie mir wenigstens diesen kleinen Gefallen. Stellen Sie mich nicht irgendwo auf ein Buchregal, wo ich verstaube, während Sie wissen, dass ich noch darin bin, in Finsternis eingesperrt.
Bitte geben Sie mich weiter. Das ist nicht zu viel verlangt. Geben Sie mich jemandem, den Sie hassen, den Sie gern in Stücke geschnitten sehen möchten, wie man eine Seite liest. Vor und zurück.
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Darf ich Ihnen bis dahin noch einen Rat geben? Sie sollten vielleicht für sich behalten, was ich Ihnen über die Verschwörung zwischen denen da oben und denen dort unten erzählt habe. Deren Spione sind überall, und ich bin sicher, sie verfügen inzwischen über mehr und bessere Mittel und Wege, die Ketzer und Ungläubigen aufzuspüren. Behalten Sie Ihr Wissen lieber für sich. Das wäre klüger. Vertrauen Sie mir. Und sollten Sie mir nicht vertrauen, dann vertrauen Sie Ihren Instinkten. Seien Sie an dunklen Orten vorsichtig und glauben Sie keinem, der Ihnen die Vergebung des Herrn oder einen sicheren Platz im Paradies verspricht.
Ich vermute, dieser wohlmeinende Rat reicht nicht aus, dass Sie dieses Buch für mich verbrennen?
Nein, das dachte ich mir.
Na dann, los. Schließen Sie die Gefängnistür und leben Sie Ihr Leben weiter. Meine Zeit kommt. Papier brennt leicht.
Und Worte sind geduldig.
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Für Emilian David Armstrong
Mit meiner Liebe und meinem Dank für Pamela Robinson
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Clive Barker
www.clivebarker.com
Der internationale Bestsellerautor Clive Barker wurde am 5. Oktober 1952 in Liverpool geboren und lebt seit Jahren in Los Angeles.
Barker schrieb schon während seiner Schulzeit Theaterstücke und drehte Avantgardefilme. Den ersten großen Erfolg erlebte er 1984 mit seinen BÜCHERN DES BLUTES (Kurzgeschichten, sechs Bände), die ihn mit einem Schlag weltberühmt machten. Stephen King: »Clive Barker ist so gut, dass mir im wahrsten Sinne des Wortes die Spucke wegbleibt … Ich habe die Zukunft des
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