Zwielicht über Westerland
Prolog
Früher
Der Wind hatte gedreht.
Wütend riss er an den kargen Büscheln des Strandhafers, die sich auf den Dünenkämmen im Sand festklammerten. Am dunkelblauen Abendhimmel jagten die Wolken, kleine und große, und unterbrachen die späten Sonnenstrahlen wie zu einem dramatisch flackernden Bühnenlicht. Die aufgischtende Brandung und die Weite der Landschaft boten dem heimlichen Betrachter mehr, als er mit einem Blick erfassen konnte.
Trotzdem erkannte er ihre Silhouette bereits von Weitem. Sie stand einfach nur da und ließ den Wind an ihrer Kleidung, ihrem Haar zerren. Unbeweglich verharrte sie, einen Punkt am Horizont fixierend.
Genau so hatte sie am Vorabend dort gestanden. Bei der Erinnerung daran fing sein Körper an zu schmerzen und gleichzeitig kam erregte Freude in ihm auf.
Langsam, denn seine Schuhe sackten in dem weißen, fließenden Sand tief ein, ging er auf sie zu. Die Unruhe, die in ihm empor kroch, als er sie deutlich erkennen konnte, war nicht die gleiche wie sonst.
Sie trug ihre langen fast flachsfarbenen Haare hochgesteckt, aber sie sah damit lange nicht so streng aus wie die Frauen in der Großstadt, aus der er kam. Dort schnitten sich die Damen die Haare auf Kinnlänge und ihre Kleider auf Wadenlänge ab.
Sie war nicht so und das gefiel ihm.
Ihr Blick war noch immer auf die untergehende Sonne über der schäumenden Nordsee gerichtet, welche wild und unbeherrscht nach ihrem Rocksaum griff.
Sie bemerkte ihn erst, als er direkt neben ihr stand.
Hastig, aber entschlossen umfasste er ihre Schultern und zog sie an seine Brust. Sie zuckte kurz zusammen und hob beide Arme zur Abwehr, doch fehlte ihr die nötige Kraft.
Es war ein Fehler, das wusste er, aber für den Bruchteil einer Sekunde erlaubte er sich, in ihre Augen zu schauen.
Angst, Panik oder Abscheu, damit hatte er gerechnet, aber in ihren großen blauen Augen stand einfach nur Hoffnungslosigkeit. Sie hatte sich bereits hingegeben, bevor er sie erreichte.
Eine helle Strähne ihres Haares löste sich und der Wind ließ sie über seine Wange streichen.
Er zog sie noch dichter an sich heran, bevor er die Augen schloss. Mit einer plötzlichen Heftigkeit beugte er sich vor und stieß seine Zähne in ihren warmen, weichen Hals.
Der Wind trug ihren kurzen, hohen Schrei auf das offene Meer hinaus. Doch er hatte ihn gehört und er wusste, sie gehörten ihm: der Schrei und der Moment.
Unabänderlich ihm, besiegelt für immer.
Sein rasendes Herz überhörte er. Sein Verstand war mit dem Schrei geflogen. Mit jedem Atemzug in ihrer Nähe schien sich ihr Geruch, ihr Geschmack, ihr ganzes Sein mehr und mehr in ihm zu verankern. Die altbekannte, fast vergessene Hitze breitete sich wohlig und erregend zugleich in ihm aus.
Eine Sturmböe erfasste ihren Rock und schlang ihn um seine Beine, als sie mit einem leisen Seufzer alle Anspannung aus ihrem Körper verlor. Fast geriet er ins Stolpern.
Wie zur Warnung kreischte eine Möwe über ihnen. Er straffte sich, während er, nun wieder ganz beherrscht, mit spitzer Zunge über die beiden Bisswunden fuhr.
Erschöpft und gleichzeitig gestärkt ließ er den leblosen Körper der jungen Frau in den Sand sinken.
„Verzeihen Sie mir“, flüsterte er und küsste zart ihre Hand mit demselben Mund, der eben noch brutal zugebissen hatte. Doch inseinem Ton war keine Reue, ahnte er doch, dass er selbst bereits ihr Opfer geworden war.
Als er die schützenden Dünen erreicht hatte, wusste er, dass er morgen wiederkommen musste.
Morgen würde er ihr sein Blut geben, dann wäre ihr Bund perfekt. Er brauchte nur noch eine Rechtfertigung dafür.
Vor den anderen, aber vor allem vor sich selbst.
1. Kapitel
Rückkehr nach Sylt
„Sehen Sie zu, dass Sie einen Fensterplatz auf der rechten Seite bekommen, Frau Johannsen“, hatte ihr die Sekretärin des Umsiedlungsbüros zum Abschied geraten.
Jetzt wusste sie, warum. Die Nord-Ostseebahn fuhr seit einigen Minuten über den Hindenburgdamm in Richtung Sylt. Silberfarben glänzte das Watt, in dem viele unterschiedliche Seevögel herumpickten, um nach Nahrung zu suchen. Weiter draußen am Horizont konnte sie die Küste Dänemarks erkennen.
Die Fahrt über war sie sehr ruhig gewesen, aber als sie nun das weiße Kliff der Sylter Steilküste entdeckte, schlug ihr Herz schneller. Nervös wippte die Spitze ihres schmalen und für August viel zu warmen Schnürstiefelchens auf und ab. Ihr gerüschter Rocksaum federte im gleichen Takt mit, während sie sich zum dritten
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